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Theater und Fechtplatz

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Während die Wiener Tagespresse voll von gewichtigen Hauptartikeln über die Wiener Theaternot ist, während das Rathaus mit den Direktoren der Wiener Bühnen über Maßnahmen zur Lösung der Theaterkrise verhandelt, ist in Wien eine neue Bühne entstanden.

Ein außerordentliches Ereignis, das die Anteilnahme aller jener verdient, die noch Augen um zu sehen und Ohren um zu hören haben.

Aus jenem Arbeitskreis, der soeben erst in der Scala in einer sehr beachtlichen zügigen Aufführung Simonows „Russische Frage“ herausbrachte, hat sich nun eine Werkgemeinschaft von Schaur Spielern, Spielleitern, Bühnenbildnern herauskristallisiert, der als leitende Köpfe der eigenwillig-geistvolle Charakterdarsteller Wolfgang Heinz, der bisherige treffliche Direktor des Volkstheaters Günther Haenel und Karl Paryla, ein Bühnenkünstler, der wahrhaftig den Ehrennamen eines „Schauspieler des Volkes“ verdient, angehören.

Ein Sechs-Mann-Komitee.

Wien hat in den letzten Jahren verschiedene Siebener-Komitees kennengelernt. Da waren sieben Mann in der Teinfaltstraße, die auszogen, um Wiens „Heimkehr ins Reich" vorzubereiten. Da sind jene anderen sieben Mann des Aktionskomitees einer sehr aktionsfreudigen Partei, die heute auszie- hen, um Wiens Einkehr in das Reich der V o 1 k sdemokratien vorzubereiten.

Es müssen nicht immer sieben Mann sein, öfter in der Geschichte der Menschheit, deren Fortschritt immer und zu allen Zeiten durch die klare Einsicht und Planung, durch den Kampf- und Opfer willen kleiner und kleinster Gruppen entschieden wird, waren es '— zwölf Mann. Zuerst zwölf Apostel. Dann zogen, im „Finsteren Mittelalter“ immer wieder junge Ordensgründer, Ordensmänner mit zwölf Gefährten aus, um in ein dunkel barbarisches Land das Licht des Glaubens und einer neuen Zivilisation, die Kunst des Bücherschreibens und der Gartenpflege, den Weinbau — und auch das Theater zu bringen.

Jawohl, auch das Theater. Sdion im 9. Jahrhundert, im Aufgang des karolingischen „Heiligen Reiches“ begrüßten die Klosterschüler, etwa der Reichenaus oder St. Gallens, den zu Gast weilenden Kaiser mit kleinen Szenerien, mit Sprech- und Schaustücken. Wir wissen heute endlich, daß der TheaterFreude dieser adeligen Genossen, die sich damals eben ansdiiekten, Blut und Mut in der Zucht christlicher Gesittung zu bändigen, bereits eine stark willentlich pro- pagandistisdie Note zugrunde liegt. Allenthalben im weiten Land lebte der derb- volkshafte, tief heidnisch verwurzelte Mimus, von dem wir eimen bunten vielfältigen Abgesang in Perchtenlauf und Bauernbrauch, in Shakespeares Travestien im Maskenspiel des Volkes besitzen. Um die „Heidenfreude“ durch eine christliche Freude zu ersetzen, schreibt ' im 10. Jahrhundert, wieder für ihre hochadelige geistliche Sipp- und Magenschaft, die sächsische Nonne Hrotsvith von Gandersheim ihre Schauspiele.

Instinktiv sicher greift sie — wie nach ihr die hohen Meister der Barodekunst — auf die erste große Auseinandersetzung zwischen dem Theater dieser Welt und jenem der Christenheit zurück: auf jene erhabenen Schauspiele, die in Stadion und Arena der spätantiken Volksmassen die Blutzeugen des neuen Glaubens mit Leib und Leben weit eher als mit Worten und Gesten zelebrierten. Seit diesem ersten großen Ansatz im Aufgang des Abendlandes ist — und gerade in den Hoditonstellen seiner Geschichte — das europäisdie Theater das geblieben, was es damals war. Propaganda fidei —, Bekenntnis für eine scharf um- rissene Welt und Lebensauffassung und Haltung. In zähem Kampf gegen alle Ver- neblungs-, Verschleierungs- und Verharmlosungstendenzen, gegen alle Versuche, die Bühne emzuwandeln in ein Spaßmal, in eine

Küche für banausische und snobbistische Leckermäuler, aber auch in eine Exerzieranstalt schulmeisterlicher Pedanten, hat sich immer wieder machtvoll und großartig der Königsgedanke des europäischen Theaters durchgerungen. Die Bühne hat eine hohe Mission. Wer ihr, in Farbe und Form, Stein und Musik, Wort und Gebärde dient, übt eine priesterliche Funktion aus, denn er ist Diener an Gott und seinem Volk.

Dies war bereits das Anliegen der protestantischen Schulbühnen des frühen 16. Jahrhunderts —, es wurde in lebendiger gegenseitiger Befruchtung und Anregung aufgegriffen von der katholischen Reformation und zumal von den Theatertrupps der Jesuiten erhöht und überhöht. Der ganze große und reiche Barock ist mit seinem religiös-politischen Imperialismus, mit der Welt

— und Gottmächtigkeit seines gigantischen Wollens und Planens nichts anderes als ein letzter abendländischer Versuch, alle Künste ' zu einem Gesamtkunstwerk in der Ordnung des „Großen Welttheaters“ auszufalten.

Der Barock zerbricht; nicht aber zerbricht der Wille Europas, fanatisch (das heißt wörtlich: im Heiligtum), um eine neue Geistigkeit, eine neue Gesellschaft, eine neue Lebensordnung zu ringen. Deshalb schlägt in jeder Stunde einer geschichtlichen Wende, einer historischen Krisis auch die große Stunde eines neuen Theaters. Hier, auf seinen Brettern, auf dem Schau- und Fechtplatz der Ideen, wird vorgespielt, nein vorgelebt, -gelitten und gekämpft, was in den Gassen und Straßen, in den Markthallen und auf den Plätzen von Paris 1798 Wirklichkeit werden soll. Die französische Revolution ist bekanntlich in ihrer entscheidenden Inkubationszeit weit stärker durch Rousseaus, Voltaires und Beaumarchais’ Bühnenstücke vorbereitet, ja gezeugt worden, als durch die späteren langatmigen Reden und Tiraden der Berufsrevolutionäre. Revolutionäre aus innerster Berufung haben dann auch das große russische Revolutionstheater geschaffen. Dieses wirkt heute noch, wenn auch nicht in seiner äußeren Form, so doch in seinem Geist zeugend nach in der großartig aufstrebenden Volksbühnenkunst, die von Yenan- China bis Polen reicht.

Damit stehen wir aber bereits vor dem Problemkreis des neuen Wiener Volkstheaters in der Scala. Sein Anliegen ist groß, kühn und kann im zwielichtig verschwommenen Leerraum des gegenwärtigen Wiener Kulturbetriebes nur von erregender Fruchtbarkeit sein.

Eine Gemeinschaft erfahrener, zielstrebiger Künstler und Könner baut eine neue

Bühne./ Eine große Publikumsorganisation soll weiteste Kreise der Wiener Bevölkerung zur Mitarbeit, zur inneren Auseinandersetzung mit der Problematik der hier zur Aufführung gelangenden Stücke einladen, an- und heranziehen. Diskussionsabende, Einführungsvorträge, Sonderveranstaltungen werden eine ganz neue, lebendige, innere Begegnung und Berührung zwischen Künstler und Publikum, Geist des Dichters, Auffassung des Regisseurs und den anteilnehmenden Kreisen der Zuhörerschaft ermöglichen.

In ihrer ersten Erklärung vor der öffent- t lidhkeit haben die Vertreter des Künstlerkollektivs festgestellt: die Scala will nicht anderen Theatern Konkurrenz machen, sie hofft vielmehr, „beitragen zu können, daß die Theatermüdigkeit in Wien auch zugunsten der anderen Bühnen überwunden wird“, („ö. Z.“ vom 16. April 1948.)

Auch wir hoffen es. Wir hoffen, daß die neue Bühne die Schläfer nicht nur in den Fauteuils und Garderoben, Amtssitzen und Direktionszimmem, Regisseur- und Dramaturgenstühlen, sondern auch in vielen tausend Vor- und Nachkriegsbetten dieser ehedem so theaterlustigen Stadt aufrütteln wird. Sie soll allen glücklichen Besitzern — auch von „Kultur“ — ein Mahnmal sein. Gold kann man vergraben, Geist und eigenständige Lebensform lassen sich jedoch nicht einsargen —, sie werden nur im Kampf errungen und behauptet.

Der erste und vornehmste Kampfplatz des Geistes ist und bleibt aber nach wie voi die Bühne' Hier legt der Mensch, der Spieler zwischen zwei Welten Zeugnis ab von dem, was er wirklich glaubt und denkt: durch sein Tun und Lassen, durch sein Auftreten und Agieren in Gesellschaft. Handeln, wirken, schaffen kann aber nur der, der an eine Zukunft glaubt —, auf der Bühne des Lebens, wie auf jener des Theaters. Deshalb wird derjenige zuerst diese, dann auch jene Bühne der Weltgeschichte erobern, der, fest wie ein Fels, unerschütterlich an sein Recht, an seine Verpflichtung, hier und heute zu handeln, glaubt.

Noch schwelgen unsere Bühnen in pathetischen Harmlosigkeiten, romantizistischen Mätzchen, in dekadenten nihilistisdien Alpträumen und literarischen Reminiszenzen. Schwächlinge und Träumer, Narren, Schwerbelastete, Kranke und Nullitäten bevölkern die Bühne. Es fehlt allenthalben an frischer Luft.

Zugwind? Er soll uns recht sein. Er kommt aus einer anderen Weltrichtung und wird uns nicht schrecken, wenn er nur endlich Luft in das somnambule, richtungs- und i charakterlose Dunkeldickicht unserer offiziellen Theatermacherei stößt.

Bedeutsamer Moment in der Geistesgeschichte Wiens. Wäre die Hoffnung zu verwegen, daß das neue Theater der Scala allen Bühnen, allen Räumen und Kreisen, die sich um Geist und Geistigkeit, um die Umsetzung von Geist in Tat und Leben kümmern und befleißigen, Ansporn, aufrüttelnde Mahnung — Verpflichtung zu eigenem neuen Anfang sein wird?

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