6789333-1970_28_12.jpg
Digital In Arbeit

Tibet ist weit

19451960198020002020

Es ist Zeit, daß die europäischen jugendlichen Intellektuellen etwas mehr über die anderen Kontinente Bescheid wissen, besonders über Ostasien, das mit Westeuropa doch geographisch verbunden ist und dessen Zukunft die Welt beeinflussen wird. Karl May hat nichts über Ostasien geschrieben. Aber die japanischen Schüler zum Beispiel wissen mehr über Europa und lesen mehr darüber als ihre europäischen Kollegen. Auch vom geheimnisvollen Tibet soll es keine Ausnahme sein — haben die Europäer nicht behauptet, sie seien die gescheitesten Völker der Menschheit? Dann sollen auch die Erwachsenen ungefähr wissen, wo sich Tibet befindet (und daß Indonesien, Indochina, Indien und China nicht ein Land sind!).

19451960198020002020

Es ist Zeit, daß die europäischen jugendlichen Intellektuellen etwas mehr über die anderen Kontinente Bescheid wissen, besonders über Ostasien, das mit Westeuropa doch geographisch verbunden ist und dessen Zukunft die Welt beeinflussen wird. Karl May hat nichts über Ostasien geschrieben. Aber die japanischen Schüler zum Beispiel wissen mehr über Europa und lesen mehr darüber als ihre europäischen Kollegen. Auch vom geheimnisvollen Tibet soll es keine Ausnahme sein — haben die Europäer nicht behauptet, sie seien die gescheitesten Völker der Menschheit? Dann sollen auch die Erwachsenen ungefähr wissen, wo sich Tibet befindet (und daß Indonesien, Indochina, Indien und China nicht ein Land sind!).

Werbung
Werbung
Werbung

Dieses Buch von Tschögyam Trungpa Tulku „Ich komme aus Tibet“ ist wie eine Parallele zu Noel Barbers „Tibetische Tragödie“ (englischer Schriftsteller und Journalist), welche die Brutalität der Chinesen gegen die tapferen nationalen Minderheiten enthüllt. Es ist auch eine schonungslose Anklage gegen Rotchina, das sich immer gern als „Beschützer der Völker“ ausgibt und in Wirklichkeit genau wie die Russen ein „Völkerkerker“ ist. Die Erzählungen von Tschöngyam Trungpa Tulku sind eine natürliche Kombination von persönlichen abenteuerlichen Erlebnissen und dem traurigen Schicksal eines unterdrückten Volkes — Aufstand für die Freiheit und Flucht vor den einfallenden Chinesen — und reichlichen religiösen Gegebenheiten. Man lernt dabei tatsächlich die Weisheit der Meister. Die Leser ernten dabei nicht nur einen politischen Eindruck von Tibet durch die Schilderung der Todeskarawane, sondern sie machen sich auch mit dem Lamaismus irgendwie vertraut — mit tibetanischen Bräuchen und Sitten, mit Sprache und Kultur, was alles ganz anderes ist als das Chinesische. Man spürt den Widerstandswillen der Tibeter, die nicht Ohinesen sind und sich auch nicht als Ohinesen assimilieren lassen wollen. Der Pan-Hanismus (großchinesischer Chauvinismus) schreibt vor, daß alle Völker innerhalb (und sogar außerhalb) der Staatsgrenze sich als Chinesen neu zu bezeichnen haben. Die „Tibetische Autonomregion“ dient deutlich nur als Schein, wobei die Tibeter zur Verschmelzung mit den Chinesen gezwungen wurden. Peking ließ bisher kein einheitliches „Groß-Tibet“ zu. Elf „kleinere“ — an sich sehr große Regionen wurden absichtlich von Tibet abgetrennt. Früher redete man ununterbrochen von Biafra, jetzt von Palästina und noch immer von Indochina, von manchen Völkermorden will man aber nichts wissen (Herr U Thant lächelt nur höflich!) — vom Negermord durch die sozialfaschistische Regierung Sudans, vom Tibetermord durch die kommunistischen Behörden Chinas; aber es gibt noch mehr...

In diesem Buch von Trungpa Tulku riecht es stark nach Indien; es ist verständlich. Tibet-Indien-China bilden seit sehr Janger Zeit ein interessantes Dreieck. Erst seit der Mand-schu-Dynastie kam Tibet tatsächlich zu China, doch es war auch nur in Tributsform. Die Tibeter reden nicht von kommunistischen Chinesen oder nationalistischen Chinesen, denn für sie sind sie gleich — bezüglich Tibets Status hat Mao Tse-tung gelogen; noch vor seiner Machtergreifung versprach er in Jenan die Selbständigkeit der Tibeter. Auch Tschiangkaischeck wollte 1945 noch die Selbständigkeit Tibets. Die sogenannte McMahon-Linie zum Beispiel wird zugleich von Peking und Taipeh verneint — da sie kein Erbe der Mandschu-Dynastie ist. Doch muß man auch die Ambitionen Indiens verurteilen, das nach dem Abzug der Engländer Ansprüche auf Tibet, Sikkim, Bhutan, Nepal und Ladakh erhaben hat, was die komische Schützlingstheorie Londons wiederholte: imperialistische Expansion.

Natürlich ist der Sitz des Dalai Lamas in Dharmsala in Nordindien doch ein freundliches Symbol der indischen Unterstützung der Sache Tibets, wenn auch mit Hintergedanken. (Welche politische Hilfe in der Welt hat keinen Hintergedanken?) Tibet ist weit, aber die Tibeter sind nah! In der Schweiz leben in Aargau seit 1962 einige hunderte Tibeter, die von der sonst fremdenfeindlichen Berner Behörde aus Indien hergeholt und nun allmählich assimiliert wurden. Es gibt also „gelbbraune Schweizer“. Auch in Evian bei Genf befindet sich das in Europa einzige Tibet-Institut unter der Leitung von Prof. Marie Lalou. In London und Paris leben heute mehrere tibetische Intellektuelle.

Inmitten der Flut der chinesischen Literatur ist es von nicht minder wichtiger Bedeutung, wenn man auch die anderen nichtchinesischen Völker jenes fernen Landes einmal in den Mittelpunkt stellt. China hat Jahrtausende lang versucht, Tibet zu erobern und schlucken; es ist ihm nie gelungen. Es ist auch nicht wahrscheinlich, daß es China diesmal gelingen wird. Denn der Wille der Tibeter zur Selbständigkeit ist, wie in diesem Buch bewiesen wird, stärker als alle seine Unterdrücker. Besonders prägnant, so möchte man fast sagen, sind die Bilder und die Zeichnungen von Esme Cramer Roberts in diesem Buch, durch die man mit dem Buddhismus und dessen rituellen Geräten in Kontakt kommt. Der Anhang bietet ein kleines Nachschlagwerk. Es wäre vielleicht nützlich für manche Kreise in Europa, die sich für den Buddhismus interessieren. Trungpa kam aus Tibet. Er geht nicht zurück. Er bringt dem Westen die tibetische Weisheit.

„ICH KOMME AUS TIBET — mein Leben in der buddhistischen Mönchswelt und die Flucht über den Himalaya'; von Tschögyam Trung-p a - T u 1 k u. Walter-Verlag, 320 Seiten, s/r 25.—.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung