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Tod ist Lebenserfüllung

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MYSTERIUM MORTIS. Der Mensch in der letzten Entscheidung. Von Ladislaus Boros. Walter-Verlag, Ölten und Freiburg im Breisgau, 1962. 207 Seiten. Preis 16.80 DM.

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MYSTERIUM MORTIS. Der Mensch in der letzten Entscheidung. Von Ladislaus Boros. Walter-Verlag, Ölten und Freiburg im Breisgau, 1962. 207 Seiten. Preis 16.80 DM.

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Herbert Eulenberg, der humanistische Feuilletonist, empfahl einmal in einem Portiätaufsatz über Arthur Schopenhauer dem Menschen, der bewußt an die Schwelle des Todes geraten ist und sich auf dessen Kommen zurüsten möchte, die Lektüre dieses Philosophen als passendste Vorbereitung. In gewissem Sinne war der Rat für die Menschen seiner Generation zutreffend. Denn Schopenhauer war der erste moderne Philosoph, der, befreit von der gedanklichen Selbstfesselung des klassischen Idealismus, das Todesproblem radikal nnd existentiell zu Ende dachte. Für ihn, der vielleicht der konsequenteste Atheist der neueren Geistesgeschichte war, stellt der Tod den nicht mehr wegzudisputierenden Bankrott jedes Lebens dar. Der den Menschen vom Unbewußten her steuernde Weltwille, dessen Drang sich nicht in die Aktionen des Einzelwillens auflösen läßt, entlarvt sich am Ende als der hohnlachende Dämon, der den Menschen ein Leben lang täuschte. Wohl dem, der es vermag, kraft seiner schon vorher das Spiel durchschauenden Erkenntnis mit einem lächelnden Seufzer in die Kissen zurückzusinken und solcherart von der Welt und den sie hervorbringenden Vorstellungen des eigenen Ich befreit, in das große Nichts einzugehen.

Was die katholische Theologie diesem radikalen Denkansatz, der vielen Menschen der uns unmittelbar vorausgegangenen Generation trotz allem traditionellen Kirchgängertum zum heimlichen privaten Überzeugungsgut geworden war, bisher entgegensetzte, war dürftig. Wir meinen hier nicht das Priesterwort, in der Sterbestunde jener, die — aus welchen Gründen immer — selbst nach dem Priester verlangten. Wir meinen die Antwort für jene, die sich gerade in ihrem Sterben auf die Schopenhauersche Position zurückzogen, sich lächelnd und überlegen vor dem verschlossen, was ihnen die überkommene Katechismuslehre von den „letzten Dingen“ für diese allereigenste letzte Stunde anbot. Es war Zeit, daß Theologen und Philosophen sich diesem Blick der verzweifelt-höhnischen Medusa stellten, die Frage Schopenhauers radikal ernst nahmen und daran gingen, sie weniger durch eine Fülle von Väterzitaten und Lehrautoritäten als durch einen eigenen Denkakt zu beantworten. Karl Rahner war einer der ersten, der dieses Todesproblem christo-logisch („Der Glaube des Karsamstag“) in Angriff nahm. Nun ist ihm neben manchen anderen sein ungarischer Ordensbruder Ladislaus Boros gefolgt. Sein bemerkenswert knappes, lapidares Buch „Mysterium mortis“, von dem er selbst (S. 9) schreibt, es sei ihm „currente calamo“ wie von selbst aus einer 1959 in der Schweizer Zeitschrift „Orientierung“ veröffentlichten Studie hervorgegangen, ist alles andere als einer jener vielen geschwätzig sich selbst fortspinnenden „religiösen“ Essays, die heute bereits eine moderne Traktätchenliteratur bilden.

Boros ist strenger philosophischer und theologischer Methodiker, der aber aus diesen Eigenschaften nicht das Recht und die Pflicht ableitet, geschraubt und langweilig schreiben zu müssen. Er stellt eine These an den Anfang (S. 93):

„Der Tod ist der erste vollpersonale Akt des Menschen und somit der seinsmäßig bevorzugte Ort des Bewußtwerdens, der Freiheit, der Gottbegegnung und der Entscheidung über das ewige Schicksal.“

Er nimmt den Tod also durchaus als das zentrale Bilanzereignis des Lebens, befreit von spät- und neuplatonischen Verklärungen, befreit auch von der Sucht, dieses Ereignis in der falschen Nachfolge des „Phaidon“ wegzudisputieren. Er nimmt ihn so ernst und wichtig wie Schopenhauer, Heidegger und der von ihm leider nur einmal (S. 40) näher zitierte, in seiner Position aber in die philosophische Auseinandersetzung stillschweigend mit einbezogene Atheist Ernst Bloch. Nur, daß er den existentiell-atheistischen Ansatz radikal umkehrt. Was für Schopenhauer der schonungslose Blick in das gähnende, totale Nichts, ist für Boros die unmittelbare Begegnung mit Gott selbst, aber nicht mit einem als Deus ex Machina auftretenden Theatergott, sondern mit einem Gott, der von allem Anfang an da war, der als Tod und Vollendung alles irdische Sein und Leben begleitete und der jetzt enthüllt präsent wird. Die wahre Entscheidung war und ist dem Menschen, dessen Leben die Totalität auf keinem Gebiet ertragen könnte, erst in diesem Augenblick des Todes, der eigentlichen, Vergangenheit und Zukunft umfassenden Gegenwart, möglich. Im Moment des Übergangs von der Zeit zum „Nunc stans“ erfährt der Mensch Gott und in ihm sich selbst. Das Leben enthüllt sich ihm nicht als ein trüber Gang ins Sinnlose, nicht als Schatten und Staub, sondern als Vorbereitung und Einübung für diese zentrale Stund der Existenz.

Die sentimentalen Bilder vom Zypressenfrieden des Verdämmerns treten in dieser Schau ebenso zurück wie dii fragmentarischen Kraftmeiereien, die in den Phrasen vom „Weiterleben im Werk* stecken. Nein: der hier und jetzt zuhanden Mensch, du und ich, lebt auf diese Stunde der Entscheidung, der Gottbegegnung hin. Boros unterbaut seine mit aller Bescheidenheit vorgetragene Hypothese nicht nur in der Berufung auf die moderne Philosophie, besonders auf Blon-del und Bergson. Er ordnet sie auch in das theologische Denken ein. Ein scharfsinniger Kommentar des Kajetauus (S. 142) baut die Brücke zu Thomas, der durch den Autor ebenso wie Augustinus vom Urtext her und nicht in der Akzentuierung gewisser thomistischer Schulen interpretiert wird.

Aber dieses Buch ist mehr als die gelehrte Privatarbeit eines Theoretikers. Es ist als Sterbenshilfe zugleich eine Lebenshilfe, die sich jedem, der seinem Gedankengang zu folgen bereit ist, erschließt. Gleichsam im Vorbeigehen erleichtert es die menschen- und christenmögliche Antwort auf Fragen, die uns immer wieder auf der Seele brennen, besonders die nach dem Heil für jene, die Christus nie begegnet sind. Die Stunde der Endentscheidung wird auch ihnen die Konfrontation dem wahrhaft Gestorbenen und ebenso wahrhaft Auferstandenen gewähren. Das Heilsgeheimnis ist zwar nicht liberalistisch verharmlost, wohl aber dem menschlichjuristischen Zeit- und Terminbegriff entzogen.

Boros schreibt weder als eigenwilliger Künder von Privatoffenbarungen noch als dozierender Kanzleichef des Herrgotts. Er faßt seine Zug um Zug erarbeiteten Erkenntnisse, durch einen Apparat von 109 schlichten Fußnoten untermauert, am Ende jeder seiner Gedankenführungen, die von der heiteren Strenge einer Bachschen Fuge sind, in einer Themen- (nicht Thesen-) Bilanz zusammen, in einer Sprache und Terminologie, die mit einigem Bemühen auch dem verständlich gemacht werden kann, der gerade hier, wo es um das eigene Bestehen oder Versagen geht, dem Sinne nach das schlichte „Ja, ja“ und „Nein, nein“ der Bergpredigt verlangt.

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