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Tontafelbibliothek und Rotationsroman

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Was stürzt da über uns herein, denkt man unwillkürlich, die Auslagen der Buchläden musternd, in denen das zur Massenware gewordene Buch sich zu Pyramiden türmt, vergleichbar den Bergen von Fischoder Gemüsekonserven im Schaufenster nebenan. Man wittert offensichtliche und geheime Gesetze, wonach Fabrikation und Ausschüttung, Angebot, lockende Zurschaustellung und Verkauf rasch verderblicher Güter, die einen flinken Umsatz erfordern, nach identischen Prinzipien erfolgen. Die Farben werden seit einem Menschenalter immer greller, die Reklame wird schreiender, das Marktgewühl basarhafter.

Man tritt ein in einen der Schnell-bedienungsbuchläden, man beginnt zu wühlen, sofern man es nicht vorzieht, einen Krimi durch Münzeinwurf dem Automaten auf der Straße zu entnehmen, diesem äußerst praktischen Druckwaren-Schnellimbiß-Mechanismus. Uberschlägt sich da unsere Zivilisation, steht sie köpf, rotiert sie im luftleeren Raum?

Denken wir an die frühen und frühesten Menschheitsaufzeichnungen, an die epochale Umwälzung etwa, als der Mensch in magisch bannenden Zeichen die Möglichkeit zur Schrift entdeckte, und damit die Chronik, die einfache Mitteilung, das Sachverzeichnis. Zerbrachen damals deswegen Kulturen? Formen zerbrachen und verwandelten sich, der Mensch blieb. Was in seiner Seele nach magischer Bannung verlangte, suchte neuen, verwandelten Ausdruck, die innere Notwendigkeit, so sie echt ist, sucht und findet mit untrüglicher Sicherheit das adäquate Werkzeug. Sollte uns diese Fähigkeit durch irgendwelche Zaubertricks plötzlich abhanden gekommen sein?

Erinnern wir uns der mühsamen Vervielfältigung alter Texte durch Schriftkünstler, die wahre Meisterwerke schufen, und des Schocks, der kam, als die mechanische Vervielfältigung durch den Druck einsetzte. Ereignete sich da Substanzverlust — oder dessen Gegenteil, das Aufblühen unerhörten Reichtums? Uns will scheinen, der Ubergang zum Rotationsbuch ist höchstens ein kleiner Schritt, gemessen an dem gewaltigen Sprung, den der Siegeszug der Buchdruckerkunst bedeutete. Damit haftet der Blick nicht länger am Wie, das zu bestaunen unser gutes Recht ist, sondern am Was. Und hier mag das Staunen noch legitimer sein.

Die Gesichtspunkte der Textauswahl waren, betrachtet -man eine Tontafel-bibliothek oder eine solche aus Papyrusrollen, betrachtet man mittelalterliche illuminierte Klosterhandschriften, einst von tiefem Ernst getragen, der in direktem Verhältnis stand zur Mühseligkeit des Verfahrens; Herstellung und Verteilung waren nicht durch Gewinnstreben und Businessdenken beeinflußt. Heute dominieren Business und Dividende als oberste Auswahlprinzipien. Unterhöhlt dies unsere Kultur und ist das Ende nun nicht mehr weit?

Wir sehen, die Instanzen von einst sind gestürzt, neue an ihre Stelle getreten. Die Auswahl wird in der einen Hemisphäre vom Käufer bestimmt, in der anderen vom Staat, der sich allmächtig und allwissend dünkt. Gibt es eine dritte Alternative? Nein, jedenfalls nicht im Augenblick. Das System der Dividende, sehen wir, zeitigt eine unübersehbare Vielfalt, eine vom einzelnen längst nicht mehr zu bewältigende Fülle, es gebiert Schund und Meisterwerke, wirft Licht und Schatten. Das ist im Grunde nicht so übel. Uns ist, gerade durch das Taschenbuch, das weniger kostet als ein Kinobesuch, die Kultur und Kunst aller Epochen des Erdkreises auf eine Weise präsent wie noch nie, seit es Menschen gibt. Ein chaotischer Hexenkessel der Einflüsse für den, der all die einander scheinbar oder wirklich widersprechenden Emanationen des Geistes nicht zu bändigen vermag, gewiß, ein Aller-weltseintopf aus Schund und Meisterwerken, ja. Die Verantwortung hat hinübergewechselt zum einzelnen, und er mag anzusehen, was er aus sich und seiner Welt macht.

Ein Griff — ein Buch. Mit einem schnellen Griff in den rotierenden Bücherständer packen wir fünf Bändchen Rowohlt-Monographien: Apollinaire, Hölderlin, Mohammed, Verdi, Whitman. Ist das nun gran-<'!os oder katastrophal? Mit einem zweiten Griff angeln wir uns aus der Fischer-Bücherei die Bändchen Paul Klee und Marino M a r i n i, und aus den R o-wohlt-Klassikern das abenteuer-I'che Leben des Mozart-Librettisten Da Fönte. Schon regt sich die Begierde, sechs Bändchen, eines hübscher als das andere, herausgegeben vom Deutschen Taschenbuchverlag (dtv), wandern in die Aktentasche: „Meister der deutschen Kritik von Gottsched bis Hegel“, „Thomas Wolfes Briefe an die Mutter“, die Romane „Die jungen Mädchen“ von Montherlant und „Herausforderung an Venus“ von Charles Morgan. Marek H 1 a s k o s Erzählungen „Der achte Tag der Woche“, die Filser-Briefe Ludwig Thomas. Besitz macht Freude. Besitzen ist leicht -

durch die Taschenbücher, diese Gänseblümchen der Bücherwiese, die sich förmlich mit der Sense abmähen lassen. Wir mähen Fischer-Bücher: Die Tragödien des A i s c h y 1 o s und, zur Herstellung des Gleichgewichts, Arthur Millers „Blick von der Brücke“, Rabelais' Gargantua und Geraid de Nervals „Aurelia“ in einer deutsch-französischen Ausgabe; H u x 1 e y s Gesellschaftsroman „Parallelen der Liebe“ muß ebenso daran glauben wie Faulkners „Der Strom“, wie Wilhelm R a a b e s „Odfeld“, wie Giovanni Vergas „Malavoglia“ und die „Neue russische Lyrik“ in der von Johannes von Guenther besorgten Ausgabe.

Wann soll das alles gelesen werden? Ein durchschnittlich emsiger Leser bewältigt, so sagt die Statistik, in seinem Leben rund 5000 Bände. Das ist wenig, schrecklich wenig, die Auswahl kann gar nicht sorgfältig genug sein. Nun gut. G. M. Gilberts „Nürnberger Tagebuch“ und die Dokumente des Nürnberger Ärztepro-zesses, „Medizin ohne Menschlichkeit“ (beide in der Fischer-Bücherei), muß man ebenso besitzen wie „Das Urteil von Nürnberg“ in der dtv-Ausgabe, soll die gewisse Vergangenheit nicht unbewältigt hinter uns zurücksinken. Wie lange sind wir schon im Buchladen? Eine knappe Stunde. Ein Blick in die Brieftasche: eigentlich___

Eigentlich, es steht Urlaub vor der Tür,

eigentlich könnten wir noch etliche Bändchen mitnehmen. Wir überfliegen die Namen des wissenschaftlichen Beirats der Rowohlt-Enzyklopädie, erkennen beruhigt, daß da eine Elite am Werk ist, der wir uns anvertrauen dürfen, und schieben den Enzyklopädieband „Piaton“, eine Einführung in sein Philosophieren von Ernst Hoffmann, ein. Er wird uns helfen, das Geistesgut, das sich in unserer Aktentasche gesammelt hat, besser zu begreifen; T. S. Eliot s berühmte Essays unter dem Titel „Zum Begriff der Kultur“ haben denselben Zweck für uns, ebenso von den dtv-Bändchen Ortega y Gassets „Der Mensch und die Leute“ mit den bekannten Angriffen auf die Methoden der zeitgenössischen Soziologie, und Egon F r i e d e 11 s „Aufklärung und Revolution“ aus seiner Kulturgeschichte der Neuzeit.

Und? Die Brieftasche ist leer, damit erübrigt sich jeder weitere Blick, der Bücherstand hört auf, Karussell zu spielen, wir steigen aus. Die Ware haben wir, an uns liegt es, sie fruchtbringend zu verwenden, allein an uns. Und das ist, bedenkt man es richtig, eigentlich eine große Auszeichnung. Und ein hoher Auftrag zugleich, der unsere besten Kräfte wachrufen muß, soll uns die Fülle nicht zum Unheil, sondern zum Heil gereichen.

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