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Totalität der Lebenswirklichkeit

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DIE WASSERFÄLLE VON SLUNJ. Von Heimito von Doderer. Biederstein-Verlag, München, 1963. 394 Seiten. Preis 19.80 DM.

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DIE WASSERFÄLLE VON SLUNJ. Von Heimito von Doderer. Biederstein-Verlag, München, 1963. 394 Seiten. Preis 19.80 DM.

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Jene Auguren, die über den moderner Antiroman und über den Roman Nouvear als Puristen wachen, nennen eine Roman form, innerhalb welcher der Autor al: Kommentator und als jemand erscheint der abwechselnd Klappen an den Schädelr der diversen Gestalten öffnet, um derer Gedanken und Emotionen dem Leser weiterzuberichten, veraltet. An den „Wasserfällen von Slunj“ allerdings, als erster vor vier symphonisch konzipierten Romaner geschrieben, die zusammen den „Totaler Roman Nr. 7" ergeben sollen, dürften sie sich mit derlei Analysen die Zähne ausbeißen.

Bereits in den „Dämonen“ stellt Doderer in dem von ihm selbst frühneuhochdeutsch verfaßten Kapitel „Dori unten“, das sich auf Huysmans „Lä-Bas“ bezieht und einen privaten, satanischen Hexenprozeß schildert, fest, daß jemand, der sich tendenziösen ideologischen Vorstellungen hingibt, zum Apperzeptionsverweigerer gegenüber der Weltwirklichkeit wird. Zumal der gestaltende Künstlet soll nicht „denkensgemäß leben“, sondern „lebensgemäß denken“, das heißt, er muß um jeden Preis verhindern, daß aus zeit- und subjektbedingten Seinsanschauungen fixierte Sollvorstellungen werden, Dogmen also, die den freien Blick auf die Wahrheit des Lebens brechen.

Damit sind wir im Zentrum der Sache, die Doderer im totalen Roman zu schaffen sucht: in der Totalität der Lebenswirklichkeit, der hier weder mit moralischen, politischen, philosophischen oder sonstigen vorgegebenen Maßstäben beizukommen ist, worüber er bereits 1951 in der Schrift „Repertorium“ sagte: „Sinngebung erfolgt vielfach, weil man zu wehleidig ist, das Sinnlose bei seinem Begriff zu belassen.“ Ihm artikuliert sich das Romanschreiben als dialektische Wissenschaft vom Leben weder logisch noch ideell, sondern durch die Form, die auch das Disparate integrierend mit umgreift.

Ob Donald, vom eigenen Vater die erhoffte Braut weggenommen wird oder die Troglodytin Wewerka gepflogenheitshalber ihren Mann abwatscht, ob das Militär als absurdes Kinderzimmer für Erwachsene erscheint oder Sektionschefs um Finanzheiraten für ihre Söhne bemüht sind, ob Damen der Gesellschaft mit Gymnasiasten sich einlassen, ob Leute aus der Gosse in Positionen aufsteigen, während andere von der Sonnenseite des Daseins ins Dunkel sinken — Doderer mißt das Leben, diesen glühenden Strom, nicht an Sol’vorschrif- ten, darin als Autor mit: keinem «rmge- ren als Newman einig. Er weiß, aaD jede Tendenz auf etwas.hin die Aussicht in die übrige Welt verstellt. Darum ist sein höchstes Ziel als Romancier, kein Ziel zu haben. Das ist die kürzestmögliche Definition des totalen Romans.

Das Ergebnis ist aber nicht etwa ein charakterloses Werk, sondern eines, das

Lebenscharakter trägt: als spräche die Schöpfung mit sich selbst. Daraus mag sich das mit fortschreitender Lektüre zunehmende Glücksempfinden herleiten, das einem tiefen Naturerlebnis entspricht. Um diesen höchsten Wert zu erreichen, mußte Dodefer sich selbst mit seinen persönlichen Strebungen und Tendenzen, die die Wahrheitssouveränität des Werkes von der ersten bis zur letzten Minute aggressiv bedräuen, aus ebendiesem Werk eliminieren.

Wie aber! rufen da schon die Auguren, erstens ist so etwas unmöglich, weil jedes Buch automatisch den Charakter seines Autors trägt, und zweitens wurde gerade vorhin erst demonstriert, wie dieser Autor breitbeinig und schließlich gar mit einer Namenstafel im Karneval seiner Gestalten stolziert!

Stimmt schon, hier liegt der springende Punkt oder der Hase im Pfeffer, man darf nur nicht den Schein mit dem Sein und die Ursache mit der Wirkung verwechseln. Von der Idee des totalen Romans erfaßt, gab es für einen Mann mit Doderers Temperament kein Zurück, sondern allein den Durchbruch oder, wem dies angenehmer ins Ohr klingt: die Flucht nach vorn. Mit welchem Vehikel, so hat er wohl in peinigender Unrast gedacht, entkomme ich nun, da ich keineswegs ’aus*'Claš'’ inJl’'duFchsičhtig bm, deni'Schatten meiner selbst in diesem Roman? Was nützt es schon, daß ich die Gestalten und Geschehnisse bis an die 90 Prozent von mir, meiner Moral oder Unmoral, von meinen Anschauungen befreie — der ungelöste Rest verdirbt den Wurf!

Doch er suchte weiter und fand als

Vehikel, ihn und den Leser über die Fährnis zu tragen: sich selbst. Er selbst, indem er sich in voller Sichtbarkeit als Person unter seine Gestalten mischt, führt den Leser an die diffizile Aufgabe heran, diesen Doderer mit seinen teils verdächtigen Eigenheiten, mit seinem Spott, seiner Ehrfurcht und seiner Wut in gleichem Maße zu relativieren, das heißt, samt seinen in ihrem Wechselspiel das Leben erst ermöglichenden Ambivalenzen zu erkennen, so wie es dieser gegenüber den Personen seiner Dichtung mit approximativ 90prozen- tigem Erfolg zustande bringt. Eben die zehn Restprozente, indem Doderer den Leser zu ihrer Bewältigung provoziert, holen diesen aus der Reserve in die Akti vität — und damit total auf des Autors Seite.

Dieser Geniestreich, längst in Doderers Opera grundgelegt, nun makellos herausmodelliert in einer Sprache, die zwischen Haydn, Mozart und Beethoven schwingt, ist nicht eine Praktik der Prämodeme, sondern potenziert noch die Identifikation des Lesers mit dem „single point of view", dem singulären Blickpunkt des Autors. So steigen und fallen oder schweben die glücklichen und die tragischen Menschen dieses Buches nicht außerhalb, sondern gleichsam innerhalb unseres Ichs, heranprojiziert an unseren Lebensmittelpunkt. Der Abschied von ihnen fällt schwer.

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