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Träumend im Land der Bilder

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Ein Aufbruch ins Grenzenlose: Was als Provokation der Jugend erschien, ist längst zum Standard des Verhaltens aller geworden.

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Ein Aufbruch ins Grenzenlose: Was als Provokation der Jugend erschien, ist längst zum Standard des Verhaltens aller geworden.

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Ein bildungsidealistisch eingestellter Lehrer scheitert an den „Divisionen von Charakterlosen unter dem Kommando von Idioten” und emigriert. Er kapituliert vor einer Mentalität, die im Hohn ihren Ausdruck findet. So Ödön von Horväth in seinem 1937 - in der Emigration, und alsbald in vielen Sprachen -veröffentlichten Roman „Jugend ohne Gott”.

Km Zustand wird beschrieben, der mit der „vaterlosen Gesellschaft” (Paul Federn, Wien 1919) und den hehren Vorsätzen der Jugendbewegung einsetzte. Der erste Weltkrieg hatte bereits die Familie zerstört, zurück blieben Jugendliche, die „aus eigener Restimmung, vor eigener Verantwortung mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten” wollten (so der Aufruf auf dem Hohen Meißner bei Kassel, 1913 bereits). In erotischen Gruppenbindungen gefangen, scheinbar ins Grenzenlose entlassen, jedenfalls kampfbereit: So bildete sich heraus, was unter dem Namen „Jugend” mehr zu sein beanspruchte als ein rasch vorbeiziehender Lebensaltersabschnitt. Seither ist Jugend eine Provokation, ein Verhaltensstandard, Mode, ein Muß - bis ins hohe Alter. Seither bestimmen Jugendrevolten die Politik. (Nebenbei gibt es Jugend auch als Profession in allen Institutionen und Organisationen).

Das begann mit den Nationalsozialisten, nach dem Zusammenbruch und der Restauration kamen die

Achtundsechziger; jetzt treten wieder gewaltbereite Radikale auf. Mit zunehmendem Verfall von Tradition und Familienbindung nimmt die Bedeutung von Jugend zu. Elternhaus, Schule, Kirche werden zurückgelassen. Allenfalls sind sie bequeme Garanten der Bedingungen, unter denen die Flucht aus der öden Wirklichkeit angetreten wird (vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht oder als Ausgangspunkt von Beziehungshetzen).

Süchtige Abhängigkeit

Von Familie und Schule gehen keine ernstzunehmenden Begrenzungen der Fluchtbewegung aus. In den Seelen breitet sich indes eine Haltung süchtiger Abhängigkeit aus, die längst entdeckt und genutzt ist. Die

vielen einzelnen, die in Selbstporträts bekennen, sie seien „traurig und allein”, befinden sich im Sog von Integrationsprogrammen mit tendenziell internationaler und interkultureller Reichweite. Längst hat das massenmediale Minderheitenprogramm für „Ausgeschlossene” Mehrheiten produziert - Mode, Lebensstil, Konsum, Pop, Disco, Sekten, Jugendreligionen...

Was als Bewegung von Nichtintegrierten begann und mit der sensiblen Beobachtung emotionaler Lagen der Jugend einsetzte, das wurde zur Glasglocke aller. Eine geschlossene Welt ist entstanden aus der großen Sehnsucht nach Befreiung. Weltweit, der Traum vom starken feeling.

Traum ist, wir wissen es von Freud, eine billige Wunscherfüllung. Umso eingängiger ist der Traum, je intensiver er mit Musik und Bildern die realen Außenweltbedingungen verleugnet. Wenn Medienexperten von der Produktion vieler Welten schwärmen und die Lust an den künstlichen Welten anpreisen, ist es schwer geworden, für die Realitäts-wahrnehmung unter den gegebenen 1 Lebensbedingungen zu werben. Das Programm, das auf Lust und Genuß setzt, hat starke Verbündete in uns. Wir leben in einer Welt, in der die Produktion und die Selbstverständlichkeit kollektiver Träume zur Wirklichkeit gehört.

Längst haben sich die Träume zu Hause, in der Schule, in der Berufswelt breit gemacht, festgesetzt. Auch wenn sie noch so sehr unsere Vorstellungen bestimmen, bleiben sie Träume. Das heißt sie leben von Bildern, vom Zweidimensionalen - sogar Dreidimensionalen (Cyberspace) also. Daß sie an- und ausgeschaltet werden können, daß sie „gewählt” werden, ändert nichts an der Tatsache, daß es sich um Variationen desselben Stücks handelt, um Reduktionen von Wirklichkeit im Anschein von Unendlichkeit. Für alle Träume gilt, was Simone Weil aufschrieb: „Im Traum gibt es keine Unmöglichkeit. Nur Unvermögen.”

Gefühle über alles

Traumverloren ins offene Meer (der Gefühle) rennen^ (siehe Werbeplakate der Reisebüros) - das ist nach wie vor der letzte Hit. Die Droge das Nonplusultra (auch hinter Kirchenmauern). Es wird zwar lauthals aufgelacht, wenn als Ziel der Drogentherapie die Abstinenz genannt wird (was selten geschieht). Doch war kürzlich auf einem Seminar über die „Werbesendungskompetenz” von Kindern - in Nordrhein-Westfalen (vergleiche „Süddeutsche Zeitung” 13. März 1995) - die Mei-

nung der Teilnehmer zweigeteilt: Hart prallten die Anhänger der „Markttransparenz” um jeden Preis auf die Befürworter von „ Kinder -werbeschutzzeiten”. Es genügt längst nicht mehr, sich bei den jedem offenkundigen Letztsymptomen der Gftsellschaftskrise aufzuhalten: Scheidungsratensteigerung, Drogentote, Zunahme der SozialfäT-le bei gleichzeitiger Abnahme der Mittel für Sozialhilfe, Suizidtendenz besonders Jugendlicher. Die Traum Versessenheit und Realitätsverleug-nung in unserer Gesellschaft als ganzer muß zugegeben werden. Es muß zugegeben werden, daß sie ein bequemes und zynisches Herrschaftsmittel ist, solange ...

Versklavungsriten

Ja, solange die Opfer mitmachen. Nicht alle werden zu enthusiastischen Masochisten und setzen sich Versklavungsriten aus (Tätowierung, piercing [durchstechen], branding [einbrennen] und so weiter). Manche greifen zu organisierter Gewalt. Gewalt spricht, wo nicht mehr gesprochen wird, wo geleugnet wird, daß es verbindliche Wirklichkeit überhaupt gibt. Solange die ersten Schritte heraus aus dem Kollektivtraum von Werbung und Bildtonpropaganda medienweit nicht geschehen, ist es müßig, über „Religion”, „Gott” zu reden. Gott ist ein Gott der Wirklichkeit und nicht des Imaginären. (Das haben Verantwortliche in der Kirche nicht begriffen.)

Kleine Schritte tun not. Ulrich Reck ist recht zu geben, wenn er in der Ökokrise den Ansatz dazu sieht. Autoritäres Verhalten wird nur in ökologischen Fragen akzeptiert. Das Müllsortieren wird zum Staatsakt und zur Herstellung neuer Verantwortlichkeit. Nirgendwo ist die Notwendigkeit von Selbstbegrenzung deutlicher. Selbstredend ist Umweltbewußtsein nicht frei vom „Traum der Emanzipation” und des großen „Wir”. Mitbestimmen, „was cool ist” gilt als das Höchste (vergleiche Trendphotograph Wolfgang Till-mans, Süddeutsche Zeitung, Magazin vom 3. März 1995). Die Gefahr einer „Ökodiktatur ist nicht von der Hand zu weisen.

Umso mehr ist es angeraten, den Weg zur klaren Zuordnung von Verantwortlichkeiten in kleinen, nachvollziehbaren Schritten zu gehen. Denn nur über Verantwortlichkeit läßt sich das Miteinandersprechen erlernen. Dann wird es nicht möglich, mit Hohn (den Horväth diagnostizierte) über ganze Menschen-gruppen (Drogenabhängige, Alte) wie über Müll zu verfügen. Jeder kann wissen, daß er nicht vertreten werden kann (E. Levinas).

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