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Tragödie der Freiheit

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Das Theater der Moderne ist eines der feinsten Meßinstrumente, die den jeweiligen Hoch- und Tiefstand, Wärme- und Kältegrad des seelischen Klimas anzeigen, zuweilen auch noch die kulturgeographisdien Länge- und Breitegrade. Als ein solches Instrument hat sich nun in diesen Tagen Sartrcs „Fliegen” erwiesen. — In Berlin und ganz Westdeutschland wurde seine Aufführung zu dem stärksten kulturpolitischen „öffentlichen Ereignis” in dem Nach- kriegs-Deutschland ab 194 5. Nicht nur die Tagespresse, sondern eine weite Öffentlichkeit, die politischen Parteien, kulturelle und religiöse Gesellschaften, Künstler, Studenten, Theologen, Volksbildner und Erzieher — sie alle nahmen bewegten Anteil an der Diskussion, an der Auseinandersetzung, die um dieses Stück entbrannte. In Wien kam es nun zur Aufführung dieses Werks durch die Kammerspiele. Außer den üblichen Vermerken der berufenen und unberufenen Theaterkritiker in der Tagespresse gab es hier weder Sensation noch Skandal — kaum eine erkennbare Wellenbewegung im Teich der Geister; einfach nichts, gar nichts.

Nun gut; es ist nicht zu leugnen, daß Sartres „Fliegen” für das deutsche Publikum zu einer ziemlich hochpolitischen Angelegenheit wurden: nicht zuletzt durch Sartres persönliche Erklärungen in Berlin und durch einige Sätze seines für Deutschland geschriebenen Vorworts zu dem Werk, das 1943 in der „Inneren Emigration” Frankreichs entstand:

„Ich …versuchte zu zeigen, daß Selbstverleugnung nicht die Haltung war, die die Franzosen nach dem militärischen Zusammen, brach wählen durfte … Auch für die Deutschen, glaube ich, ist Selbstverleugnung unfruchtbar. Ich will damit nicht sagen, daß die Erinnerung an die Fehler der Vergangenheit aus ihrem Gedächtnis verschwinden sollen. Nein, aber ich bin überzeugt, daß nicht eine willfährige Selbstverleugnung ihnen Jenen Pardon verschafft, den die Welt ihnen gewähren kann. Dazu verhelfen ihnen nur: eine totale und aufrichtige Verpflichtung auf eine Zukunft in Freiheit und Arbeit, ein fester Wille, diese Zukunft aufzubauen und das Vorhandensein der größtmöglichen Zahl von Menschen guten Willens.”

Während die Schatten der Kriegsverbrecherprozesse, der Not und Verzweiflung und kompendiöser Schulderklärungen allermöglichen Personen und Korporationen über den zerschlissenen Kaum, der einst „Deutschland”‘ hieß, liegen, läuft also (und wer könnte es ihm verargen?) das deutsche Publikum in hellen Scharen zu Sartres „Fliegen”, um hier eine Darstellung seiner seelischen Situation zu finden. Zwei Erscheinungen mußten es hiebei besonders ansprechen: die ausweglos dichte Atmosphäre von Untergang — Verzweiflung — Resignation — Schuld und Verbrechen und dann der spitze, schrille Schrei der Rebellion, des Aufstandes, der Erhebung. Der Mörder Orest erklärt deni Gott Jupiter, der ihm Verzeihung verheißt, wenn er sich seinem Gesetz unterordnet; Nein. „Klein beigeben. Ganz klein. Immer ,Pardon sagen und .Danke .” — Nein. Orest bekennt sich zum Mord an Ägist, dem König von Argas und an Klytemnestra, seiner eigenen Mutter — er will nichts von Reue wissen, denn diese Reue erscheint ihm nur als eine Faiigfalle des Gottes, der lüstern nach’ der Herrschaft über die Seelen und Leiber der Menschen begehrt. Im offenen Bekenntnis zu seiner Tat erlebt Orest seine Freiheit. „Jenseits der Angst und der Erinnerungen. Frei.” — „Ich bin dazu verurteilt, kein anderes Gesetz zu haben als mein eigenes.” „Ihr habt verstanden, daß mein Verbrechen mir gehört; ich nehme es für mich in Anspruch vor dem Angesicht der Sonne, es ist der Grund meines Lebens und mein Stolz.”

Nietzsche also., in drei Akten zu vier Bildern, 1947/48 aus Frankreich nach Deutschland importiert. Dies ist aber nicht alles — die Wurzeln reichen tiefer. Sartres „Fliegen” — das Summen der Erinnyen, der Rachegöttinnen um den verzweifelt Sich-selbst-Wollenden einzig einsamen Menschen — sind der Abgesang, ein wahrhaft beklemmend düsterer Abggsang auf die gesamte Philosophie des deutschen Idealismus.

Hohe Sterne der Begeisterung, eines verwegenen Enthusiasmus leuchteten noch über Fichte, dem Prediger der „nationalen Erhebung” der Deutschen, dein Prediger der Emanzipation des Menschen von Gott: „Das Ich setzt sich selbst.” Kant, der Philosoph des deutschen Bürgertums, hatte eine gottgesetzte Ethik bereits als Irrglauben, als unstatthaft -für das freie bürgerliche Individuum abgelehnt. Es sei unsittlich, dem Gesetz eines „Fremden”, eines „anderen” zu folgen — Und Sei es auch der höchste Gott — der Mensch müsse „autonom” sei t! Von Kant und Fichte über Feuerbach und Stirner zu Nietzsche und zur Gegenwart: Sartres „Fliegen” müßten in einem imaginären Hades dem versammelten Kollegium der deutschen Philosophen und Professoren des 19. Jahrhunderts vorgespielt werden. Hier finden sie ihre Ideen — zu Blut und Fleisch, Schuld und Verzweiflung geronnen. Der Jüngling Orest, der „neue” autonomselbstherrliche Mensch, lehnt jedes Eingreifen des Gottes-Herrn Jupiter in sein Tun als unerlaubte Einmischung ab. Dieser Sartre- sche Obergott ist übrigens eine penetrante Mischung aus Freuds Hordenvater, dem Roi thaumaturge, dem wunderwirkenden König des GotteSgnadentums in der haßerfüllten Schau Voltaires und aus den Minderwertigkeitskomplexen „demokratischer” Kleinbürger angesichts der Herrschaftsgewalt der „Autorität”.

Dies ist die eine Komponente im Werk Sartres. Er selbst führt sie auf Descartes, den Stammvater der bürgerlichen Philosophie der „Neuzeit”, zurück, und er selbst hat sie vital ängereichert mit der offenkundigen, beziehungsweise latenten Verzweiflung, die den „autonomen” Menschen umgibt, der nun zum „Einzigen” und „Einsamen” zum „Übermenschen” und „Geworfenen” bei Kierkegaard, Nietzsche, Heidegger wird. Diese Kraftlinie endet in einem dunklen Loch. Die Welt ist ein Schuldgefängnis, dessen Luft verpestet wird durch Myriaden „Schuldfliegen”. Jeder ist an jedem schuldig, ein Ausbruch in die Freiheit ist nur dem einzelnen möglich, in verzweifelt selbstherrlichen Taten kann er den Rahmen der Zeit und Gesellschaft, des Kollektivs und der Götter sprengen. Konsequent wählt Sartre als Musterbeispiel dieser Befreiungstat den Mord. Der Mord ist die Gegentat gegen die Schöpfung, er zeigt die äußerste Möglichkeit des Menschen an: wie weit dieser gegen Gott und Menschheit vorzugehen vermag …

Dies ist aber doch nur eine Komponente Sartres. Sie mag das Publikum in Deutschland so gefangengenommen haben. Es gibt jedoch noch einen anderen Aspekt, für den sich bei uns in Österreich einige wache Menschen interessieren sollten. — In diesem Drama geht es nicht um die üblichen dramaturgischen und bühnen- requisitoriscben Kleinigkeiten, wie beim Großteil der Gegenwartsstücke, sondern ums Ganze: Es ist schon etwas, wenn das Volk von Argos fünfzehn Jahre in Sack und Ache und schauerlichen Bußreden Sühne leistet für den Mord an seinem rechtmäßigen König Agamemnon und für seine eigenen „privaten Angelegenheiten”! Es ist schon etwas, wenn ein Gott — und sei es auch nur dieser „Jupiter — sich Orest, dem Menschen, stellt zu Rede und Gegenrede.

Ohne Zweifel, und wir sagen dies nachdrücklich allen jenen, die nicht hören und •sehen wollen und können — hier geht nicht nur i n einem schrecklichen Abgesang ein erregendes Gespräch des europäischen Menschen zu Ende, das Gespräch des sich selbst bestimmenden Individuums um und wider Gott — hier beginnt auch ein neues Gespräch. Sartre hatte die Diskussion seiner Gedanken auch in einem Stück darstellen können, das in „gehobener” akademischer Sphäre die „Zuständigkeit” göttlicher Autorität für das Leben der Menschen besprochen hätte: in einem englischen Klub, in einer Abendrunde- am Kamin eines französischen Schlosses, im Studierzimmer eines deutschen Professors.

‘Daß er solchen annehmlichen Unverbindlichkeiten die Unbedingtheit der griechischen Tragödie vorzog — entweder „alter” Gott oder „neuer” Mensch — zeigt, daß sich bei aller Irrung und Wirrung doch etwas Neues, Wesentliches und Tiefzeitgemäßes anbahnt: knarrend beginnen sich die Angeln eines großen Tores zu drehen, zu bewegen. Der Mensch ist nicht nur ein Gefangener seines Ichs, seiner egozentrischen Gedanken, Taten und Gefühle. Orest stürzt, Verfolgt vom Schwarm der Rachegeister, von der Bühne seiner Schuldtat… Es bleibt eine große fürchterliche Leere — illusionslos, unabdingbar zeigt sie Sartre auf. Wir müssen ihr ins Gesicht sehen. Mit diesem Gottes- und Menschenbegriff, wie ihn hier Sartre zeigt, kann kein neues Leben gebaut werden. Sartre vermochte zwar das deutsche Publikum zu erschüttern, aber nicht aus seiner seelischen Not zu befreien.

Die Wiener Uraufführung: die Kammerspiele tun ihr Möglichstes. Die Schauspieler sind der Größe des Bühnenbildes Mankers nur teilweise gewachsen. Die Regie Karl Wessels verdient Anerkennung, gleitet jedoch manchmal in Grotten- und Geisterbahnsensationen aus. Symbol für Wien? Sartre als Volkspraterspektakel, als Versuch des Gruseinlernens für allzu blasierte Kinder? Wenn dies wahr wäre, dann wäre damit nichts für oder über Sartre, wohl aber einiges über Wien gesagt. Die Angst Sartres ist sichtlich nichts für, Wien.

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