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Tragödie der Zwischenwelt

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Eine prächtige Aufführung im Volkstheater macht Wien bekannt mit dem in Deutschland bereits aufgeführten Drama des Wieners Ulrich Becher „Feuerwasser". Wie in Göttingen führt nun auch in Wien Heinz Hilpert Regie. Becher gelingt in diesem sehr sehenswerten Stück die Verdichtung der Zwischenwelt, in der wir alle leben, auch wenn wir uns nicht zu ihr bekennen wollen, in lebendigen Gestalten, die einmalige Menschen sind, mit einem Lebenslauf, der sich von armseligen Wiegen bis zu einem leeren oder erfüllten Sterben Stunde für Stunde verfolgen läßt, und die zugleich „Rollen" sind. „Rollen", die uns meinen, die unsere brüchige Existenz zwischen Gestern und Morgen aussagen, unsere Phrasen und Aengste, unsere Charakterschwäche, Zeitverfallenheit, Ohnmacht und Hoffnung. Das ist ja das Faszinierende an diesen kleinen Gaunern und armen Teufeln, an diesen Verbrechern und guten Jungen in einer New-Yorker Kneipe 1946: diese „Typen", die ganz Fleisch und Blut sind, schwaches Fleisch und Atem der Angst, sie können sofort „übersetzt" werden in zahllose andere „Typen" kleiner Leute, unsere Tagesgenossen, die mit uns „leben", „verdienen", ein klein wenig betrügen und selbst sehr betrogen werden von den „großen Hunden", die das ganz große Geschäft des Schreckens, des Krieges, der Ausbeutung der Leiber und der Versklavung der Seelen betreiben. Becher ist Moralist im guten, starken Sinn des Wortes, wie er in Westeuropa seit Jahrhunderten beheimatet, hierzulande nur bekannt und erlaubt ist im Gewände des Schalksnarren. Er tut deshalb aus vielen guten Gründen recht daran, seine Predigt vom armseligen Leben und scheinbar armseligen Sterben des freien Mannes, des europäischen Nonkonformisten, des Mannes also, der nein zu sagen wagt zu den zahllosen Versehrungen, Beleidigungen und Schändungen der Würde des Menschen, einzukleiden in eine Story von gewollter „Banalität", die aber auf Schritt und Tritt Abgründe offenbart. Dreidimensionale Filme gewisser technischer Verfahren besieht man bekanntlich durch Brillen, die es eben ermöglichen, eine dritte Dimension, die des Raumes, auf der flachen Leinwand zu sehen. Dem Publikum, das Bechers „Feuerwasser" besieht, möchte man eine ähnliche Art Brillen wünschen, damit es vom ersten Moment an gehalten ist, die innere Dimension dieser Figuren wahrzunehmen, ihre Transparenz anzunehmen. Es gibt keine einzige Gestalt in diesem Drama, die nicht zugleich viele „andere" Rollen meint, die wir alle spielen, mitspielen. Um dies auch ohne Transparenzbrille zu verdeutlichen, bedient sich Becher eines wichtigen Hilfsmittels: er läßt seine Figuren ihre eigene Sprache sprechen — wobei sich erweist, daß diese Menschen behaust und unbehaust sind in verschiedenen Kontinenten, in disparaten Räumen der Seele auch und des Geistes. Diese Handvoll kleiner Leute. Diebe. Tagdiebe, gescheiterte Existenzen sind ja nicht nur im äußeren Sinne „Emigranten", Emigranten aus Europa, in der ersten, zweiten und dritten Dimension, die sich, wenn auch oft uneingestanden, zurücksehnen in den Leib des Mutterlandes, das sie ausgestoßen hat oder das sie „freiwillig" notgetrieben verließen und die diese Sehnsucht bezeugen, indem sie, in Sprachfetzen zumindest,

diese Sprache der verlorenen Heimat sprechen hier in New York, das hier als Sinnbild steht für das Babel unserer Zwischenzeit. Der kleine, aus der Wiener Leopoldstadt stammende Ganove, die Männer aus Berlin und dem „Reich", aus Böhmen, Frankreich, Griechenland, sie alle bezeugen ihre tiefe Verwundung, indem sie jederzeit bereit sind, sich fallen zu lassen: in den Schoß ihrer Muttersprache, in den Abgrund des Verbrechens. Was sie suchen, ist: Vergessen. Diese Geworfenen eint ein letztes Sakrament: das „Feuerwasser", der „Sprit", der Schnaps; dieses Sakrament des Teufels täuscht ihnen jene hohe Einung und Kommunion vor, jene echte legitime und heile Verbindung mit dem Du, den Dingen, mit Gott und dem Kosmos, die sie (und wir alle) nicht finden in dieser Welt, wie sie heute ist, diese Krebsgeburt der Weltkriege, der Weltbürgerkriege. Jede dieser „Figuren" (Figur hier als Symbolgestalt im Paracel- sischen, vielleicht auch im Jüngerschen Sinne) verdiente eine Existenzanalyse: die Dramen und Tragödien des alten Europa ließen sich an ihnen aufrollen. Da es aus Raumnöten hier unmöglich ist, jede Gestalt und jeden Schauspieler (alle verdienten sie zumindest genannt zu werden!) namhaft zu machen, sei wenigstens kurz auf die beiden „Helden" verwiesen, deren Kampf auf Leben und Tod den Raum des Stückes bildet. Sepp, der Gangsterhäuptling, ein wildwüchsiger Schößling des rechtsradikalen bayrisch-österreichischen Untergrundes, „der große Hund", wie er in der New- Yorker Unterwelt ehrfürchtig und mit Haß genannt wird, verfolgt bis in den Tod hinein Harry Braun, das Kind der Berliner Luft — um diesen weht ein letzter Duft nicht vom Schnaps, den er als Barkeeper ausschenkt, sondern von der großen Berliner Aufklärung und Romantik und von jener Kraft des Mitleidens (das uns Fontane und Meister Zille bezeugen), wie es nur wachen Großstadtkindern gegeben ist, Kindern einer wachen, grüblerischen, oft verzweifelten Angst und Sorge um das Wohl des lieben kleinen Nächsten, aber auch um das Los des verfallenen Ganzen, der „Gesellschaft". Harry Braun gelingt es (und allein diese Symboltat verdiente bereits einen Kommentar für sich!), durch das Opfer seines Lebens, indem er sich richtig abschlachten läßt von Sepp (in dem die dämonische Kraft des „Oberförsters" in den „Marmorklippen" sitzt, plebejisiert freilich), diesen einen „großen Hund" dingfest zu machen — und überläßt es den hinterbliebenen Freunden und uns, uns jener anderen „großen Hunde" zu erwehren, die in dieser Zwischenzeit und Zwischenwelt die unbehauste, noch nicht in gültigen neuen Ordnungen beheimateten Menschenmassen (alle sind sie „kleine Leute") mit Zuckerbrot und Peitsche zunächst in den Engpaß der Angst, dann in ihre Zwinger, zuletzt auf die Schlachtfelder treiben. Diese bedeutende Premiere fand am 13. März in Wien statt. Es hätte sich kein sinnfälligeres Datum finden lassen; allzu viele haben bereits das rechte Gedächtnis verloren für die präzisen Daten unserer österreichischen Geschichte; die, wie die Geschichte aller Völker, eine Geschichte vom Fall vieler und der Auferstehung weniger, als neuer Menschen, ist.

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