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Treffpunkt Roter Salon

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Nun schlängelt sich der weidwunde deutsche Heerwurm mit seinen Bundesgenossen und Anhängern beiderseits der Donau gegen Oberöster-reich zu. Schirach macht im Quartier ■Sepp Dietrichs, das der SS-Generaloberst gegen etwaige Übergriffe des grollenden Hitler befestigt hat, kurze Rast. Rund um die nahe Stadt St. Pölten hält die Gestapo ein fürchterliches Blutgericht über österreichische Freiheitskämpfer ab, und an allen Straßenecken achten diverse Aufpasser scharf darauf, daß niemand verschwindet, damit die Kolonnen intakt bis hinauf nach Linz kommen, also in jenen Ort, von dem Adolf Hitler am 29. April 1945 in seinem Testament sagen wird: „Ich habe meine Gemälde in den von mir im Laufe der Jahre angehäuften Sammlungen niemals für private Zwecke, sondern stets nur für (Jen Ausbau einer Galerie in meiner Heimatstadt Linz an der Donau gesammelt. Daß dieses Vermächtnis vollzogen wird, wäre mein herzlichster Wunsch.“

Auf einer anderen Rückzugsstraße unweit Komeuburg bleiben einige Autos stehen, und Bürgermeister Hanns Blaschke blickt noch einmal auf das qualmende Wien zurück. Am 13. April 1945 stürzt das Chorgewölbe des brennenden Stephansdomes ein und zerschmettert die kaiserlichen Oratorien sowie das gotische Gestühl. Der Osttrakt des Parlaments, das heißt des verlassenen Gauhauses, und das Buirgtheater sind in Flammen gehüllt. Aber schon Tage vorher waren oben auf dem Stephansturm und auf einem Eckturm des Rathauses rotweißrote Fahnen gehißt worden.

Auf die Ruhestätten von Johann Strauß und Ludwig van Beethoven im Wiener Zentralfriedhof legten Offiziere der Roten Armee kurz nach Blaschkes Abzug demonstrativ Kränze nieder.

Alte Namen: Kunschak, Schärf, Körner

Am Freitag, dem 13. April 1945, fanden sich im Roten Salon des Wiener Rathauses mehrere Spitzenpolitiker der ehemaligen Sozialdemokratischen Partei Wiens sowie der Christ-liohsoziale L. Kunschak ein. Nur wenig Zeit war seit dem Exodus der braunen Gemeindeväter vergangen, in der Nähe wurde noch an einzelnen Stelle gekämpft. Am Helden-platz standen mehrere russische Batterien, in der Museumsstraße warei Salvengeschütze der Roten Armee aufgefahren. Die Tore des Rathauses standen weit offen, das Gebäude selbst war zwar nicht formell beschlagnahmt, wohl aber nach Bedarf von den Russen in Benützung genommen. Im Arkadenhof wieherten Pferde, die Verwüstungen im Hause und in der Umgebung machten gewaltigen Eindruck. Angeblich hat Dr. Schärf den Erschienenen bei einem neuerlichen

Zusammentreffen zwei Tage später vorgeschlagen, den Russen die Ernennung Körners zum provisorischen Bürgermeister Wiens nahezulegen. Jedenfalls beweist die Aktivität dieser Gruppe alter österreichischer Routiniers am 13. April, daß sie die Gelegenheilt des Tages seit längerem berechnet und sich trotz des Terrors der letzten Wochen darauf einigermaßen vorbereitet hatten.

T

ten sich völlig anderen Problemen gegenübergestellt als Bürgermeister Hanns Blaschke. Sie hatten keine Lust auf Untersuchungen, ob die drängenden Fragen des Augenblicks nicht doch gewisse Wesensverwandtschaft mit den Anliegen der braunen Stadtverwaltung aufwiesen. Dabei waren die wiedergekehrten Größen von einst dem Blaschke gar nicht so artfremd, schöpften sie doch gleich ihm aus einem Reservoir von Traditionen, die ebensoviel Trennendes wie Gemeinsames haben. So gaben sie sich bald genauso unerschrocken und redegewandt wie der verschwundene SS-Führer.

Voll Zuversicht auf eine eigene zweite Jugend nahmen die Männer im Roten Salon den Kampf mit einer Welt voll Widrigkeiten auf. Da waren die Russen mit ihrem Mißtrauen, ihrer Reizbarkeit und ihren dunklen Zukunftsabsichten. Immerhin, sie hatten freie Wahlen in Aussicht gestellt, und hierfür trauten sich die Erschienenen mit Recht mehr Geschicklichkeit zu als Blaschke jemals aufbrachte.

Da war die österreichische Widerstandsbewegung, quasi ein Fremdkörper, den man ausschalten mußte. Diese Organisation verlor auch prompt die erste Schilacht der neuen Friedenszeit, denn das Gremium im Roten Salon überging die von der 05 vorgesehene Gemeindespitze. Hierbei hatte es sich um den ehemaligen sozialdemokratischen Stadtrat Weber und den Kommunisten Prikryl gehandelt, von denen der erstgenannte freiwillig aufgab, während sich Prikryl noch einige Tage als Vizebürgenmeister zu halten suchte. Eine merkwürdige Parallele zur Tätigkeit der Herren Laor und Gratzenberger in den ersten drei Tagen der Anschlußzeit von 1938!

Rollenwechsel...

Damit war aber auch nur ein Problem von vielen erledigt. In der Stadt wohnten weiterhin viele Nazis, die innerlich gebrochen schienen und auf Züchtigung warteten, die man aber dabei nicht tödlich verwunden und damit für immer verlieren durfte. Die Frontkämpfer- und Heimkehrerfrage mit ihren politischen Aspekten kündigte sich an, die hungernden Frauen und Kinder, deren Erhalter verschwunden waren, wollten weiterleben, desgleichen die Fremdarbeiter, die Wohmingslosen und die ersten rückwandernden

KZler. Ringsum drohten würgende, später fast unvorstellbare Mängel an allen lebensnotwendigen Dingen sowie internationale Sensationen, deren Entwicklung niemand beurteilen konnte,; solange es keine Elektrizität und damit keine Radionach-riclhiten gab. Vor den Türen lauerten Kommunisten, die von einer raschen Machtergreifung in Wien und Österreich träumten, und im eigenen Herzen wühlte die Eifersucht mit dem Stachel der Erinnerung an den Februaraufstand von 1934 herum. Nur die Juden waren entweder tot oder weit weg, sie kamen jedenfalls erst später in Frage. Vor den zerschlagenen Fenstern des Roten

Salons versank die Gaustadt Wien im Aschenregen, während die Herren in den Reminiszenzen an die Bundeshauptstadt der zwanziger Jahre Stärkung fanden. Das pangermanistische Denken von damals hielten sie allerdings nicht mehr für angebracht. Aber selbst damit unterschieden sie sich nicht völlig von Blaschke, wenngleich dieser noch Jahrzehnte später die großdeutsche Schicksalsgemeinschaft im kleinen Kreise beweihräucherte. Die Nationalsozialisten der Gaustadt hielten sich stets für die „besseren“ Deutschen, die mehr für die. großdeutsche Idee zu leiden gehabt hätten als die Volksgenossen aus dem Reich. Irgendeine Art Selbständigkeit, ja sogar Führungsansprüche wurden von ihnen

zumindest solange für unabdingbar gehalten, bis ein Berliner Erlaß das Wort „Ostmark“ beseitigte und an seine Stelle die „Donau- und Alpengaue“ setzte, die ihrerseits nach getaner Aufweichung des letzten noch irgendwie einigenden Begriffs in den Hintergrund treten sollten. Merkwürdigerweise hatte sogar das Wien Baidur von Schirachs .einige österreichisch anmutende Funktionen übernommen, für die sonstwo kein Platz mehr gelassen wurde. Hierher, wenn auch im Sinn der Umkehrung eines Spiegelbildes, gehört die Intrige Seyß-Inquarps gegen Bürckel, in deren Verlauf Seyß Gö-ring gegenüber behauptete, Bürckel unterdrücke bloß das österreichische Gefühl, während er, Seyß-Inquart, imstande sei, dieses Gefühl völlig aufzulösen. Freilich, im endgültigen Effekt konnten die Wiener Nazis nie die Rolle von Handlangern der Berliner Machthaber abstreifen. Die neuen Männer im April 1945 fühlten sich davon frei und mußten erst später lernen, wie schwer es ist, dererlei Rollenwechsel unter Beachtung des europäischen Gleichgewichtes tatsächlich zu vollziehen. Der Kunsthistoriker Richard Donin

erklärte bald nach Kriegsende in seinen Schriften, daß die feindlichen Fliegerangriffe dem Stephansdom wenig Schaden zugefügt haben. Nur die Bombe, die aim 12. März 1945 in die Katakomben bei der oberen Sakristei einschlug, hatten den Einsturz der nordöstlichen Ecke dieser Sakristei zu Folge. Donin geht nicht auf die blutigen Verluste in den erwähnten Katakomben ein, sondern befaßt sich mit dem deutschen ArtriMerie-bescbuß im April 1945, der das Dach „an vielen Stellen durchlöchert hat“. Er meint, die Tatsache, daß der ausgebaute Hochiturm relativ unversehrt erhalten blieb, sei dem deutschen Hauptmann Gerhard Klin-kicht zu danken. Dieser hätte mit seiner Flakbatterie 100 Schuß auf den Turm abgeben sollen, sei jedoch von der Durchführung des Vorhabens eigenmächtig abgekommen.

Den verheerendsten Dombrand in einer ganzen Serie kleiner Schadenfeuer datiert Donin in der Nacht vom 11. auf den 12. April, also von Mittwoch auf Donnerstag. Das Holzgerüst am unausgebauten Turm brannte als erstes, die Ftaramen kamen durch die Fenster der Glocken-stube ins Innere, die Halbpummerin stürzte in die Tiefe, und die benachbarte Dombauhütte fing Feuer. Nunmehr drangen auch Flammen von anderen Häusern durch das große gotische Westfenster oberhalb des Riesentores und entzündeten die Haiuptorgel. Während das Feuer auf den südlichen Heidenturm übergriff, blieb der nördliche Heidenturm mit fünf Glocken durch Vorarbeiten von Domkurat Göbel und anderen Helfern vor größeren Schäden bewahrt.

Doch der Dachstuhlbrand des Domes ließ sich nicht länger verhindern. Wohl hielt das Gewölbe des Langhauses den niederstürzenden Massen

stand, aber die Pfeilerarkaden des Chores brachen und gaben damit glühenden Steinen und brennenden Dachbalken den Weg zur Zerstörung des eigentlichen Gotteshauses frei. Nur das Gewölbe über dem Frauenchor und über dem Fünfiachtelschluß des Hauptchores sowie das anschließende sechsteilige Gewölbe des Chorquadrats erwiesen sich fest genug, drei darunter befindlichen Altären und etlichen Baukleinodien Schutz zu bieten. Die mittelalterlichen Glasfenster hinter dem Hauptaltar sowie der Wiener Neu-städter Altar waren glücklicherweise rechtzeitig geborgen und das Fried-richsgrab genügend stark eingemauert worden.

Die Toten von Wien

Hinsichtlich der Personenvertoste während der Luftangriffe und Kämpfe in den Jahren 1944 und 1945 gibt es einige voneinander leicht abweichende Zählungen. Hans Riemer stellte 1947 fest, daß in Wien bei 52 Luftangriffen 7895 Einwohner und 874 Ortsfremde getötet worden sind.

Er meint, daß am 12. März 1945 925 Menschen, am 21. Februar 1945 849 und am 10. September 1944 776 Menschen zugrunde gingen. In den zehn Kampftagen im April 1945 kamen laut Riemer 2168 Wiener und 98 ortsfremde Personen ums Leben.

Johann Virich gibt 1967 als Autor einer militärischen Schrift 53 Luftangriffe mit 8769 dabei gefallenen Wienern an, addiert also die Angaben Riemers. Die tatsächlichen Verluste sind wahrscheinlich bedeutend höher gewesen, selbst wenn man von den Bombenopfern der Wehrmacht, der Polizei, bei diversen Sanderformationen, den Kriegsgefangenen, den Häftlingen usw. absieht. Allein unter den Zivilpersonen sind viele überhaupt nicht mehr gefunden worden, andere starben unerkannt an ihren Verletzungen, und Ortsfremde blieben beim Durchzug irgendwo liegen, ohne daß nachher davon sonderlich Notiz genommen worden ist. Die Gemeindeverwaltung zählte nach den Aprilkämpfen 5000 unbeerdigite Leichen in der Stadt, doch werden es sicher erheblich' mehr gewesen sein.

Die größten Verluste sind jedenfalls in den Bezirken Favoriten, Florids-dorf, Landstraße und in der Leopoldstadt eingetreten. Riemer gibt für den 10. Bezirk 1196, für den 21. Bezirk 1085, für den 3. Bezirk 917 und für den 2. Bezirk 730 Tote an. Nahezu 4000 Gebäude waren durch Fliegerangriffe und Kämpfe in Ruinen verwandelt und von Schuttmassen im Ausmaß von 850.000 Kubikmeter umgeben.

Ruinen klagen an

Zuletzt noch einige Zahlen aus der Schiadensmappe für Kulturbauten: 1944/45 wurden von den insgesamt 421 Schulhäusern der Gaustadt 67 völlig zerstört, 119 schwer und 235 leicht beschädigt. Das Volkstheater hat zwar an seiner Außenfront starke Kriegsschäden erlitten* konnte aber schon Ende April den Spielbetrieb wiederaufnehmen. Nur der oberste Rang des Zuschauerraumes blieb bis auf weiteres unbenutzbar. Beim Großen Musikvereinssaal verzögerten die Beschädigungen der Decke und der Fenster die Betriebsaufnahme bis in den Herbst 1945. Von 220 Wiener Kinos waren im Frühsommer 1945 nur 120 betriebsfähig, von 400 städtischen Turnsälen konnten nur 75 benützt werden. Die rund 100 Sport- und Spielplätze Wiens sind 1944/45 durch Kriegseinwirkungen auf die Hälfte herabgesetzt worden. Von 60 städtischen Badeanstalten waren sieben gänzlich zerstört, 23 schwer und 20 leichter beschädigt.

Rechnet man die gebombten Wiener Bibliotheken sowie die vielen ausgebrannten Büchereifilialen hinzu und vergißt die schwer beschädigten Museen, Ausstellungshallen und Kunstinstitute nicht, so ergibt sich ein interessantes Schlußbüd an Zerstörungen innerhalb eines Sektors, der von den Angreifern bestimmt nicht dazu ausersehen war. Denn ruinierte Kinos oder aufgewühlte Sportplätze beeinflussen nirgends den Kriegsverlauf. Aber wo gehobelt wird, fliegen Späne, soll Göring einst Kritikern seiner Konzentrationslager in Preußen zugerufen haben. Ein teuflisches Wahrwort, das sich gegenwärtig in anderen Erdteilen erneut bestätigt.

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