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TRÖSTERIN MUSIK

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Nun bin ich auch in diesem Sommer wieder hier heraufgekommen, auf einem neuen Wege diesmal, denn am Tag unsrer Reise war im Bergeil die Straße verschüttet, die Brücken zerstört, und wir mußten den uns bis dahin unbekannten Umweg über Sondrino, Tirano, das Puschlav und den Berninapaß nehmen, einen weiten, aber überaus schönen Umweg, dessen tausend Bilder mir jedoch bald wieder in Unordnung und ins Schwinden gerieten; am besten erhalten hat sich der Eindruck der gewaltigen, hundertfach gefältelten und terrassierten oberitalienischen Weinhügel, ein Bild, das mir in jüngeren Jahren wenig interessant gewesen wäre. Damals war es die menschenlose, ungezähmte, wilde und womöglich romantische Landschaft, auf die ich begierig war, viel später erst und mit den wachsenden Jahren immer mehr ist mir auch das Zusammen von Mensch und Landschaft, ihre Formung, Überlistung und friedliche Eroberung durch Acker- und Weinbau lieb und interessant geworden: Terrassen, Mauein und Wege, den Hängen angeschmiegt und deren Formen verdeutlichend, Bauernklugheit und Bauernfleiß im stillen zähen Kampf mit den zerstörerischen Wildheiten und Launen der Naturgewalten.

Die erste wertvolle Begegnung dieses Bergsommers war eine menschliche und musikalische. Schon seit Jahren war in unserem Hotel der Cellist Pierre Fournier gleichzeitig mit uns Sommergast gewesen, nach dem Urteil vieler heute der Erste in seinem Fach, nach meinem Eindruck der gediegenste aller Cellisten, im Virtuosen seinem Vorgänger Casals ebenbürtig, im Künstlerischen ihm eher überlegen in der Strenge und Herbheit des Spiels sowohl wie in der Reinheit und Konzessionslosigkeit seiner Programme. Nicht daß ich, was diese Programme betrifft, immer und überall mit Fournier übereinstimmen würde, er spielt manchen Komponisten mit Liebe, auf den ich ohne Schmerz verzichten könnte, etwa Brahms, aber auch diese Musik ist ja eine ernste und ernstzunehmende, während der berühmte Alte einst neben der ernsten und qchten auch allerlei Prunk- und Mätzchenmusik gespielt hat. Also Fournier mit Frau und Sohn war uns nicht nur vom Hören, sondern seit Jahren auch vom Sehen wohlbekannt, doch hatten wir einander jahrelang in Ruhe gelassen, einander nur aus der Ferne zugenickt und einer den andern leise bedauert, wenn er ihn von Neugierigen belästigt sah. Diesmal aber, nach einem Konzert im Rathaus von Samaden, ergab es sich, daß wir näher miteinander bekannt wurden, und er bot mir freundlich an, einmal für mich privat zu spielen. Da er schon bald reisen mußte, mußte dies Zimmerkonzert gleich am nächsten Tage stattfinden, und es traf sich, daß dies ein Unglückstag waT, ein Tag des Unwohlseins, des Ärgers, der Müdigkeit und Verstimmung, wie sie auch noch auf der Stufe der Alters-Scheinweisheit uns von unsrer Umgebung und von unbeherrschten Strebungen des eigenen Herzens beschert werden können. Beinahe mußte ich mich dazu zwingen, zur vereinbarten Stunde am Spätnachmittag das Zimmer des Künstlers aufzusuchen, mit meiner Verstimmung und Traurigkeit kam ich mir vor, als sollte ich mich ungewaschen mit an eine festliche Tafel setzen. Ich ging hin, trat ein, bekam einen Stuhl, der Meister setzte sich, stimmte, und statt der Luft von Müdigkeit, Enttäuschung, Unzufriedenheit mit mir und der Welt umgab mich alsbald die reine und strenge Luft Sebastian Bachs, es war, als sei ich aus unserm Hochtal, dessen Zauber sich heute an mir wenig bewährt hatte, plötzlich in eine noch viel höhere, klarere, kristallnere Bergwelt gehoben worden, die alle Sinne öffnete, anrief und schärfte. Was ich selber diesen Tag über nicht vermocht hatte: aus dem Alltag heraus den Schritt nach Kastalien zu tun, das vollzog die Musik an mir in Augenblicken. Eine Stunde oder anderthalbe weilte ich hier, zwei Solo-Suiten von Bach anhörend, mit kurzen Pausen und wenig Gespräch dazwischen, und die kraftvoll, genau und herb gespielte Musik schmeckte mir wie einem Verschmachteten Brot und Wein, sie war Nahrung und Bad und half der Seele, wieder zu Mut und zu Atem zu kommen. Jene Provinz des Geistes, die ich mir einst zur Rettung und Zuflucht erbaut hatte, tat mir ihre Tore wieder auf und empfing mich zu einer ernstheiteren, großen, im Konzertsaal nie ganz zu verwirklichenden Feier. Geheilt und dankbar ging ich davon und habe noch lange daran gezehrt.

In früheren Zeiten habe ich ein ähnliches ideales Musizieren oft erlebt, ich habe zu den Musikern immer ein nahes und herzliches Verhältnis gehabt und habe viele Freunde unter ihnen gefunden. Seit ich zurückgezogen lebe und nicht mehr reisen kann, sind diese Glückstage natürlich selten geworden. Übrigens bin ich im Genießen und Beurteilen von Musik in mancher Hinsicht anspruchsvoll und rückständig. Ich bin nicht mit Virtuosen und in Konzertsälen aufgewachsen, sondern mit Hausmusik, und die schönste war immer die, bei der man selber mittätig sein konnte; mit der Geige und ein wenig Singen habe ich in den k'nafenjahreS'die ersten Schritte ins Reich der Musik getan, die Schwestern und namentlich Bruder Karl spielten Klavier, Karl und Theo waren beide Sänger, und wenn ich die Beethovensonaten oder die weniger bekannten Schubertlieder in der frühen Jugend von Liebhabern zu hören bekam, deren Leistung keine virtuose war, so war es doch auch nicht ohne Nutzen und Ergebnis, wenn ich etwa Karl lange Zeit im Nebenzimmer um eine Sonate werben und kämpfen hörte und schließlich, wenn er sie „hatte“, den Triumph und Gewinn dieses Kampfes miterleben durfte. Ich bin später, in den ersten Konzerten berühmter Musikanten, die ich hörte, allerdings für eine Weile dem Zauber der Virtuosität manchmal wie einem Rausch erlegen, es war hinreißend, die großen Könner das Technische bewältigen zu hören mit dem Anschein lächelnder Mühelosigkeit gleich jener der Artisten auf dem Seil und am Trapez, und es schmeckte bis zum Wehtun süß, wenn sie an dankbaren Stellen einen kleinen Drücker und Hochglanz zugaben, ein schmachtendes Vibrato, ein wehmütig hinsterbendes Diminuendo, aber es dauerte doch nicht allzulange mit diesem Bezaubertsein, ich war gesund genug, um die Grenzen zu spüren und hinter dem sinnlichen Zauber eben doch das Werk und den Geist zu suchen, nicht den Geist des blendenden Dirigenten oder Solisten, sondern den der Meister. Und mit den Jahren wurde ich eher überempfindlich gegen den Zauber der Könner und jenes vielleicht winzige Zuviel an Kraft, Leidenschaft oder Süße, das sie einem Werk hinzufügten, ich liebte weder die geistreichen noch die traumwandlerischen Dirigenten und Virtuosen mehr und wurde ein Verehrer der Sachlichkeit, jedenfalls ertrage ich seit Jahrzehnten ein Übertreiben nach der asketischen Seite hin weit leichter als das Gegenteil. Dieser Einstellung und Vorliebe nun entsprach Freund Fournier vollkommen.

Ein anderes Musikerlebnis mit einer heiteren, ja lustigen Episode, erwartete mich bald darauf bei einem Konzert von Clara Haskil in St. Moritz. Es war, von drei Scarlatti-Sonaten abgesehen, nicht ganz das Programm, das ich mir gewünscht hätte, das heißt: es war ein durchaus schönes und edles Programm, nur enthielt es, eben außer Scarlatti, keines meiner Lieblingsstücke. Ich hätte, wäre „der Wünsche Gewalt“ mir gegeben gewesen, zwei andere Sonaten von Beethoven gewählt. Und dann versprach das Programm die „Bunten Blätter“ von Schumann, und ich flüsterte Ninon noch gerade vor dem Beginn des Konzertes zu, wie leid es mir tue, daß nicht statt der „Bunten Blätter“ die „Waldszenen“ uns erwarteten, sie seien schöner oder doch mir weit lieber, und mir läge so viel daran, daß mir liebste kleinere Stück von Schumann, den „Vogel als Prophet“, noch einmal oder mehrere Male zu hören. Das Konzert war dann sehr schön, und ich vergaß meine allzu privaten Liebhabereien und Wünsche. Aber der Abend war noch darüber hinaus glückbringend. Die Künstlerin, die sehr gefeiert wurde, schenkte am Ende noch eine Zugabe, und siehe, es war nichts anderes als mein lieber „Vogel als Prophet“! Und wie bei jedem Wiederhören dieses holden und geheimnisvollen Stückes erschien mir die Stunde wieder, in der ich es einst zum erstenmal gehört habe, erschien mir die Stube meiner Frau im Gaienhofener Haus mit dem Klavier, erschienen mir Gesicht und Hände des Spielers, eines lieben Gastes, ein großes, bärtiges und bleiches Gesicht, mit dunklen, traurigen Augen, tief über die Tasten geneigt.

So war auch dieser Abend, in einem Saal voll eher mondänen Publikums, für mich ein kleines Gedächtnisfest und voll von

Anklängen intimer und teurer Art. Man trägt vieles durchs lange Leben in sich herum, das erst mit uns selbst erlöschen und verstummen wird. Der Musikant mit den traurigen Augen ist seit nahezu einem halben Jahrhundert tot, mir aber lebt er , und ist mir zu Zeiten nah, und^das Stück vom Vogel aus-den ,,WaIdszenen“ ist, wenn 'jfjfafg nach Jahren wiederhole, noch über seinen eigenen, Schumannschen Zauber hinaus stets- ein Quell von Erinnerungen, von denen das Klavierzimmer in Gaienhofen samt dem Musikanten und seinem Schicksal nur Bruchstücke sind. Es klingen dabei noch viele andere Töne auf, bis in die Knabenzeit zurück, wo ich vom Klavierspiel meiner älteren Geschwister her manches kleine Schumannstück im Kopf hatte. Und auch das erste Bildnis von Schumann, das mir noch in Kinderzeiten vor Augen gekommen ist, ist unvergessen geblieben. Es war farbig, ein heute wohl nicht mehr genießbarer Farbdruck der achtziger Jahre, und war ein Blatt in einem Kinderkartenspiel, einem Terzett mit Porträts von berühmten Künstlern und Aufzählung ihrer Hauptwerke; Shakespeare. Raffael, Dickens, Walter Scott, Longfellow und andere haben für mich zeitlebens jenes kolorierte Kartengesicht behalten. Und jenes Terzettspiel mit seinem für die Jugend und einfache Leute eingerichteten Bildungspantheon von Künstlern und Kunstwerken mag vielleicht die früheste Anregung zu jener Vorstellung einer alle Zeiten und Kulturen umfassenden Universitas litterarum et artium gewesen sein, die später die Namen Kastalien und Glasperlenspiel bekam.

Ahs „Gesammelte Scltrlften“, Band VII, SuUrkamp-Verlag.

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