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Trost der Dichtung

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Es ist der Sinn der Dichtung, Trost zu bringen; wenn gar kein Trost von ihr kommt, ist sie nicht Dichtung.

Eine Behauptung wie diese ist anstößig in heutiger Zeit. Denn unsere Zeit hat einen merkwürdigen Ehrgeiz, ihr Leid als ungeheuer und „einmalig“, wie sie so gern und so falsch sagt, anerkannt zu wissen und sich nur ja nicht trösten zu lassen. Es ist, als nähme man ihr etwas Kostbares weg, wenn man ihrem Leid einen Trost entgegensetzen will. Dieser neumodische Stolz auf das Leiden, im Grunde ist er eine unheimliche Erscheinung, eine Verkehrung des rechten Lebenssinnes zeigt sich darin.

Damit wird nicht gesagt, Dichtung müsse ein poetisch herausgeputztes Traktat sein. Das darf sie nicht. Dichtung, wie jede Kunst, kommt aus einer sehnsüchtig, ahnungsvollen Kraft, die Dinge der Schöpfung, vor allem aber den Menschen, sub specie aeternitatis, das heißt von der Möglichkeit her zu sehen, die Gott in alles Geschaffene gelegt hat. Unser in der Mühe des Alltags stumpfgewordenes Auge sieht die Dinge und die Menschen meistens nicht so, wie sie von Gott her sind. Es ist auch wirklich oft schwer, etwa den dicken, mit sich selbst zufriedenen Mitbürger auf Erden, der im Zug ungebeten laut seine Meinung über alles und jedes kundgetan, dann aus einem Rucksack reichlich gegessen hat, ohne dabei ein schöner Anblick gewesen zu sein, und der endlich mit über dem Bauch gefalteten Händen nicht ohne Schnarchen sein Mittagsschläfchen hält... es ist oft schwer, ihm anzusehen, wo er seine lebendige, gotterschaffene Seele hat. Wir wissen aber, daß er sie hat. Und der Dichter, der das nicht weiß, verdient nicht, daß man ihm zuhört. Der echte Dichter wird aus dem dicken Mitbürger in der Eisenbahn keinen Seraph machen. Er wird ihn genau so schildern, wie er ist. Aber er wird den Moment nicht übersehen, wo dieser selbstzufriedene Mann aus seinem Schläfchen erwacht und hinausblickt in eine schöne grüne Berglandschaft und in dem stumpfen Gesicht ein Staunen aufgeht — schnell wieder vorbei, aber das war wirklich ein Atemzug seiner Seele, übrigens braucht es keine schöne Berglandschaft dazu; von irgendeiner Sache sonst kann das ausgelöst werden, dieses Atemholen und Staunen der Seele. Denn jeder Mensch hat eine Seele, das ist keine dichterische Erfindung, Gott sei Dank; und auch das ist keine dichterische Erfindung, daß sie sich in jedem Menschen, jedem!, manchmal regt. Man muß nur Augen haben, es zu sehen. Ein Dichter mindestens muß Augen haben, es zu sehen, und darf sich nicht für einen „Realisten“ halten, wenn er gar nichts sieht. Erst wenn er den Menschen so aus seinem Ganzen schaut, ist er überhaupt imstande, Gestalt zu geben. Wir kennen hochgerühmte Schriftsteller, deren Werke man mit Photoalben vergleichen könnte, in so vielen Stellungen und Genauigkeiten bilden sie den Menschen ab. Es nützt mir aber nur wenig, wenn ich erfahre, daß die Oberlippe des Herrn X beim Sprechen zuckt, es sei denn, daß ich durch eine solche physiognomische Genauigkeit einen Durchblick auf dessen Seele bekomme, auf die Wesensgestalt dieses Menschen unter dem Blickpunkt der Ewigkeit. — Wenn das nicht geschieht, wenn ich nur die Karikatur des Menschen zu sehen bekomme, langweilt sich der Herr X und das ganze Buch, das von ihm handelt. Denn es gibt auf die Dauer nichts so Langweiliges als Karikaturen. Die Uberwindung aber der Karikatur ist nicht eine Lehre vom Guten und Schönen, sondern: die Gestalt. Dichtung gibt ihren Trost als Gestalt. Und Gestalt ist nur möglich im Lichte Dessen, von dem alle Gestalt ausgeht. Auch noch die böse, verderbliche oder verächtliche Gestalt hat ihre Kraft, uns als Gestalt entgegenzutreten, aus Gott. Es kann in einem Buch viele häßliche und gottfremde Gestalten geben und das Buch kann darum doch Dichtung sein. Das gilt, wenn das Häßliche als Not erlebt ist, wenn sich aus ihm eine Sehnsucht erhebt. Sobald das ist, geht auch Trost davon aus: es ist der Trost, mitten im Elend zu ahnen, wozu wir bestimmt sind. Da erfüllt die Kunst ihr Amt, und erfüllt es besser, als wenn sie uns ein Schönes hinstellt, das mit unserm wahren Zustand nichts zu schaffen hat. Ein trostreicher Abglanz der Schöpfung kann aus einem Gedicht kommen, das eine Rose feiert — aber auch aus dem hungernden Armeleutgesicht, das Käthe Kollwitz gezeichnet hat. Sobald jedoch die Häßlichkeit zum Selbstzweck wird, hat sie mit dem Künstlerischen ... und hat sie zugleich auch mit der Wahrheit nichts mehr zu tun. Es ist auch immer notwendig, ein Werk als Ganzes zu beurteilen; es gibt bei Hieronymus Bosch, es gibt sogar bei Grünewald und Dante manches, was, für sich allein genommen, Verzerrung ist, im Zusammenhang des Werkes aber einen tröstlichen Sinn hat. In der Grünewaldschen Kreuzigung ist der weisende Finger Johannes des Täufers allein genug, mit dem kreuztragenden Lamm zu seinen Füßen, um all der bestürzenden Todesqual das Gegengewicht — und mehr als das Gegengewicht! — zu halten.

Wollen wir also die zuvor ausgesprochene Behauptung, um ganz gerecht und genau zu sein, so fassen: Es kann Dichtung geben, die angesichts des Elends der Welt den Trost nicht vermag und bei der Klage stehenbleibt, und sie kann darum doch Dichtung sein. Wer aber nicht trösten will, wer nicht auf allen Höhen und in allen Tiefen auf der Suche ist nach dem Trost — der ist kein Dichter.

Unserem Leiden an der zerfallenen und verworrenen Welt setzt die Dichtung ein Bild der Gottesschöpfung entgegen. Wir werden hingewiesen, gleichnisweise, auf das, was die Welt von Gott her war und wiederum werden soll. Wir empfangen in einem Teil die Ahnung der Ganzheit. Das ist das Tröstende. Und das geschieht überall, wo echte Dichtung zu Wort kommt. Und das ist darum keine Beschwichtigung und Beschönigung, keine Ablenkung vom Ernst des Lebens, weil der Trost gilt. Die Welt, wie elend sie auch sei, kommt wirklich aus Gottes Hand, und alle Sünde, die in ihr geschehen ist und geschieht, hat die Spuren der schöpferlichen Hand nicht weglöschen können. Weil es so ist, darum ist Dichtung wahr. Im letzten ist die Welt gut aufgehoben. Was uns in ihren Trümmern noch tröstlich anglänzt, ist mehr als Relikt, mehr als nur schöne Erinnerung; das Versprechen der Erfüllung durch Gott den Herrn liegt darauf. Dadurch wird auch die Dichtung erlöst von der Traurigkeit, nur ein Nachklang des einmal gewesenen Schönen zu sein und also von einem Trost zu sagen, der nicht mehr in Geltung wäre; sie wird ein Vorklang dessen, was im neuen Himmel und auf der neuen Erde sich verwirklichen soll.

„Wir wagen nur zu singen, Wenn wir gute Botschaft bringen“ hat Hans Carossa einmal gesagt. Das klingt sehr einfach und als wäre nicht viel dahinter. Und doch ist mit den zwei Zeilen der ganze Ernst der dichterischen Aufgabe umschrieben.

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