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TRÜGERISCHE SIEGESGLOCKEN

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Die Begebenheit, die ich hier erzähle, hat mich lange Zeit als ein rein rationales Problem beschäftigt. Ich hätte gern herausbekommen, wie es zu ihr gekommen sein mag. Mit den Jahren ließ meine Neugierde nach, wenigstens was die unmittelbaren Ursachen jenes geheimnisvollen Glockengeläutes — denn um ein solches handelte es sich — oder was den Anstifter des Unfugs, wenn es nur ein Unfug war, betrifft. Dagegen erschien es mir im Sinne einer höheren Logik nicht mehr schwer zu verstehen, warum damals die Glocken läuteten.

Es war um den 1. September 1914, wahrscheinlich in der Nacht vom 1. zum 2. September, vielleicht auch einen Tag, will heißen, eine Nacht später. Die erste, an Hysterie und Panik grenzende Kriegsstimmung, da man eine Art von Einwohnerwehr gebildet hatte und die mit Schrotflinten ausgerüsteten älteren Bauern — die jüngeren waren eingerückt — nachts die Straßen sperrten, um das von Frankreich nach Rußland fahrende, mit Gold beladene Auto abzufangen, war bereits verflogen. Aber man war noch immer empfänglich für allerhand Gerüchte, brannte vor Neugier nach aufregenden Nachrichten und stellte sich vor, daß jede von Ihnen die Entscheidungsschlacht und das Ende des Krieges melden könnte, von dem die meisten Leute überzeugt waren, daß er spätestens im Herbst zu Ende sein müsse. Die Deutschen hatten bei Mörchingen gesiegt und dann in rascher Folge, kein Tag ohne Siegesnachricht, bei Longwy, bei Charleroi, an der Sambre, bei St. Quentin und weiß der Himmel wo noch überall. Daß sie bei Gumbinnen schlecht abgeschnitten hatten, war kaum erwähnt worden, aber nun hatte Hindenburg den Sieg bei Tannenberg erfochten, um den sich sogleich mythischer Glanz zu spinnen begann. Unsere I. Armee hatte bei Krasnik gesiegt, aber in Serbien mußte etwas schiefgegangen sein, und ostwärts Lembergs fanden schwere Kämpfe statt — also mußten große Teile von Ostgalizien in Feindeshand sein. Hoffnung und Sorge, Stolz und Kummer lagen in den Gemütern durcheinander wie die Karten in einem gut gemischten Spiel.

Der Spätsommertag, auf den die bewußte Nacht folgte, war herrlich gewesen, wie fast alle Tage jenes letzten Sommers, der noch im Frieden begonnen hatte und der letzte des alten Europa wurde. Ich war mit meinem Vater über Land gegangen, wir hatten verschiedene Bekannte gesprochen, von jedem etwas Neues gehört und jedem etwas erzählt, aber es war bei diesem Austausch von Nachrichten nicht viel herausgekommen, denn im Grunde wußte ja keiner etwas, und die hinausgezogen waren und an der Save oder Drina, am Bug oder an der Weichsel standen, waren wie durch einen tiefen Graben von uns getrennt, sie lebten in einer anderen Welt, auch wenn sie noch lebten. Es dauerte noch einige Monate, bis sich zwischen Heimat und Front jener die Phantasie und mit ihr die Menschlichkeit abnützende Pendelverkehr herausgebildet hatte, der den Krieg zur selbstverständlichen neuen Lebensform werden ließ: Urlauber, die kamen, Verwundete, die ins Lazarett eingewiesen wurden, Urlauber, die wieder wegfuhren, Todesnachrichten, Rekruten, die mit neuen Hoffnungen hinausfuhren, Pakete, die man an die Front schickte, und Karten, die von der Front kamen. Jetzt im Sommer 1914 war alles, was draußen geschah,, noch in ein tiefes Geheimnis gehüllt.

Es war dunkel, aber es war auch ein sternenreicher, warmer Spätsommerabend und daher keine völlig dunkle Nacht, als wir die Bezirksstadt Dux und damit den letzten Abschnitt unserer Wanderung erreichten. Plötzlich stießen wir hier auf einen Freund meines Vaters, der unserem Haus am Nachmittag einen Besuch abgestattet hatte und uns zufällig geradewegs in die Arme lief. Er lebte in Wien und kam nur in den Ferien alljährlich nach Nordböhmen, von der ganzen Familie als ein Bote aus der großen Welt jedesmal freudig erwartet und stürmisch begrüßt. Er entschloß sich, den Weg, den er gekommen, mit uns nochmals zurückzugehen und nicht nur einen anderen Zug, sondern gleich eine andere Bahnstrecke zu wählen. Wir lebten in einer Gegend mit einem dichten Eisenbahnnetz. Ich brannte vor Neugier, was er uns berichten würde, denn in Wien mußte man doch, wie ich annahm, viel mehr wissen als bei uns, die wir am Rande des großen Reiches lebten. Er wußte nicht viel Erfreuliches zu berichten. Er hatte sich in Wien das Raunzen angewöhnt und aus seiner deutschböhmischen Heimat die Schwärmerei für alles Reichsdeutsche behalten. Zu meinem Ärger und meinem noch größeren Schmerz machte er die Österreicher schlecht, lobte die Preußen über den grünen Klee und sagte voraus, daß wir in Galizien eine große Niederlage erleiden würden, trotz Krasnik. Ich war am Ende froh, als wir uns verabschiedeten. Um uns so üble Kunde zu bringen, hätte der Gast sich nicht aus Wien hierher zu bemühen brauchen.

Als wir heimkamen, berichtete meine Mutter, daß er auch ihr das Herz schwergemaoht hatte mit den gleichen Unkenrufen und Schmähreden. Es sei dann aber der Lehrer R. gekommen, der ganz anders geredet und dem Wiener Gast an der Karte gezeigt habe, was sich in Wahrheit im Osten vorbereite und was für ein großer Stratege unser Conrad sei. Ich war sehr neugierig und wollte wissen, was der R. dem F. auf der Karte erklärt habe, aber meine Mutter hatte es sich nicht so genau merken können. Später konnte ich mir’s zusammenreimen. Es war wohl die Operation der Schwenkung um Rawaruska in die Flanke der auf Lemberg vorgehenden russischen Armee gewesen, die dann leider im Sande verrann, buchstäblich, in dem Sande Wolhyniens, der mit dem Blute unserer Soldaten getränkt wurde.

Am nächsten Morgen weckte mich meine Mutter mit den Worten: Die Österreicher haben einen großen Sieg errungen. Bei Lemberg. 125.000 Russen sind gefangen! (Die genaue Zahl verlieh der Nachricht eine besonders hohe Glaubwürdigkeit; nicht runde 100.000 oder 150.000, sondern genau

125.000 Russen; damals konnte man noch nicht wissen, daß auch das nicht den entscheidenden Sieg und das Ende des Krieges bedeutet hätte; nicht einmal für die Italiener war Karfreit, wo sie 300.000 Gefangene und ebensoviel Deserteure und Marodeure verloren, das Ende.) Wer denn die Nachricht gebracht habe, wollte ich wissen. „Um ein Uhr in der Nacht haben überall die Glocken geläutet, eine halbe Stunde lang.“ Die Glocken geläutet? Und ich hatte nichts gehört? „Warum hast du mich nicht geweckt?“ Ich hätte so fest geschlafen, sagte meine Mutter, wahrscheinlich weil ich von der gestrigen vielstündigen Wanderung müde gewesen sei, daß ich nicht erwacht sei, und wecken habe sie mich nicht wollen. Die Straße sei voll von Menschen gewesen. „Und wer hat die Nachricht gebracht?“ Das könne man eigentlich nicht sagen, e wurde halt plötzlich erzählt, einer sagte es dem anderen,

und alle meinten es zu wissen. „Aber es ist doch wahr?" fragte ich, von einem unguten Gefühl des Zweifels befallen. „Es muß doch wahr sein, die Glocken haben ja geläutet, überall, so weit man hören kann, von der Stiftskirche und von allen Orten der Umgebung kam das Geläute.“ Ich war ärgerlich, daß man mich nicht geweckt hatte. Es schien mir, daß ich tatsächlich den Krieg und den Sieg regelrecht verschlafen hatte. 125.000 Russen gefangen... ein großer Sieg. Mein nächster Gedanke galt unserem alten Kaiser. Welches Glück für ihn, welch stolze Genugtuung. Er hatte Solferino und Königgrätz ertragen müssen, nun, am Ende seines langen Lebens ging die Sonne des Sieges wieder über Österreich auf. Ich dankte Gott für diese meinem Kaiser erwiesene Gnade.

Der Tag verging unter ungeduldigem und immer ängstlicher werdendem Warten. In den Zeitungen stand nichts von dem großen Sieg. Sie konnten es ja auch noch nicht wissen. Leute, die in der Bezirksstadt gewesen waren, hatten aber auch kein Extrablatt, keinen Aushang gesehen. Der Abend neigte sich herab, ohne daß wir aus der Ungewißheit erlöst worden wären. Es wurde immer glaubwürdiger, daß die Pessimisten recht hatten, die schon seit den Mittagsstunden behaupteten, es sei alles nicht wahr. Ein Gerücht, eine Falschmeldung, eine Tatarennaohricht... Mein Gott! 125.000 Gefangene und nur eine Fälschung?! Und die Glocken hatten eine halbe Stunde geläutet. Enttäuschung malte sich auf allen Gesichtern. Ich war tieftraurig und dachte wieder an den alten Kaiser. Ob in Wien denn auch die Glocken geläutet hatten? Die Zeitungen meldeten neue deutsche Siege. Die Zahl der bei Tannenberg gefangenen Russen überstieg die Zahl von 100.000. Am Nachmittag kam ein Freund unseres Hauses, der sich in Teplitz die letzten Nachrichten, die bei der Zeitung ausgehängt waren, wortwörtlich abgeschrieben hatte. Da war allerdings ein Sieg unserer 4. Armee gemeldet. Auffenberg hatte bei Komarow 18.000 Gefangene gemacht und mehr als 200 Geschütze erbeutet. Sollte das der große Sieg gewesen sein? Nur 18.000 Gefangene, nicht 125.000?! Und bei Lemberg stand es schlecht. Wieso hatten die Glocken geläutet?

Niemand konnte sagen, von wem die falsche Nachricht tiberbracht worden war, wer das Läuten der Glocken angeordnet, wer die genaue Zahl genannt hatte. Man erfuhr nur, daß der Pater Provisor des Zisterzienserstiftes, der seit Kriegsbeginn in großen Sorgen wegen des Vermögens des

Klosters war, das in der Bank von England hinterlegt war, in jener Nacht, als die Glocken läuteten, verrückt geworden war. Aber er hatte das Läuten nicht angeordnet, er wurde nur durch das Läuten, das ihn aus dem Schlaf weckte, närrisch. Einige wollten wissen, daß man drüben in Sachsen, sei es wegen der Sedanfeier (also doch der 2. September?), sei es wegen des Sieges bei Tannenberg, die Glocken geläutet, daß der Wind den Klang über das Erzgebirge getragen und daß irgendein übereifriger Glöckner auf der böhmischen Seite das Signal aufgenommen nabe. Natürlich bekannte sich keiner der Glöckner dazu, der erste gewesen zu sein. Erst viel später bastelte ich mir eine andere Erklärung zusammen. General Auffenberg hatte doch geglaubt, daß er bereits die ganze russische 5. Armee im Sack habe, und er hat bis an sein Lebensende behauptet, daß Komarow ein ganz großer, entscheidender Sieg geworden wäre, wenn nicht der Erzherzog Peter Ferdinand mit seiner Division eigenmächtig 15 Kilometer zurückgegangen wäre und so die Zange geöffnet hätte, die sich um die Russen schloß. Wenn diese Nachricht, will sagen, Auffenbergs Erwartung, von irgendeinem Reporter vorzeitig ausgetratscht worden wäre? Irgendwo las ich dann einmal, es habe sie tatsächlich jemand nach Wien gemeldet, und dort sei in den Cafes von dem großen Sieg gesprochen worden, der dann nicht so groß war. Aber wie war diese Tatarennachricht von Wien in den Winkel zwischen Ossegg und Klostergrab gelangt und hatte dort, nur dort, zu dem verwirrenden Geläute geführt?! Darauf gab es keine Antwort.

Heute will mir eine andere Deutung einleuchten. Ehe der Sommer der großen Täuschungen zu Ende ging, ehe die Zeit der Rückzüge, des Stellungskrieges, der ununterbrochen auflaufenden Verluste und der grauen Hoffnungslosigkeit begann, entzündete sich an irgendeinem winzigen Zufall noch einmal der Rausch der Illusionen, der Traum vom Siege und von der wunderbaren Errettung Österreichs. Warum gerade bei uns? Vielleicht gar nur für mich allein, der ich von einem patriotischen Fieber besessen war? Wer kann solche Fragen wirklich beantworten?! Wer weiß über die geheimnisvollen Ströme Bescheid, die durch die Seelen rinnen, vom Geist auf die Materie übergreifen, zwischen der erdgebundenen Menschenseele und der jenseits von Raum und Zeit wirkenden Allmacht geheimnisvolle Verbindungen her- stellen? Auch die Tiefenpsychologie hat die ganze Tiefe des Geheimnisses gerade nur angeritzt, nicht tiefer als die lächerlichen Sputniks den Abgrund des Unendlichen. Die Glocken haben getrogen. Es war kein Sieges-, sondern ein Grabgeläute. Aber was es sonst noch war, das zu deuten hätte man nicht die Reporter, sondern die Seher fragen müssen.

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