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Uberproduktion -das Ende der Literatur?

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Der letzte Weihnachtskatalog des deutschen Buchhändler-Börsen-Vereins hatte Lexikonformat, und wollte ein gewissenhaft Sortimenter ihn durchstudieren, brauchte er dafür mehrere Tage. Sollte er gar den Wunsch haben, die Bücher, welche ihn interessieren, zu lesen, weil er sie verkaufen möchte, brauchte er für diesen Vorgang der Selbstinformierung ein halbes Jahr oder länger, und schließlich hat er auch noch anderes zu tun. Bücherlesen ist für niemanden eine Hauptbeschäftigung, auch nicht für den, der sie verkauft. Er muß sich also auf die Empfehlungen der Verleger und ihrer Vertreter verlassen, und weil diese alles loben, was sie produzieren, bleibt ihm nichts übrig, als auf gut Glück eine Anzahl von Büchern zu bestellen.

Es kommt daher häufig vor — ich stütze mich hierbei auf Mitteilungen aus Sortimenterkreisen —, daß Käufer den Laden betreten und Bücher verlangen, deren Existenz dem Verkäufer unbekannt ist. Er muß erst im Katalog nachschauen. Sollte aber der Kunde nur den Titel und nicht auch den Namen des Autors wissen, steht der Buchhändlei hilflos da und macht einen schlechten Eindruck. Wer ihn deshalb einen schlechten Geschäftsmann nennen wollte, verkennt die verzweifelte Lage, in der er sich befindet und die mit jedem Jahr schlimmer wird: er kann sich unmöglich über alle Bücher des Jahres unterrichten und obendrein noch die aus früheren Jahren im Kopf behalten, er kann nur noch Lotterie spielen, das heißt auf Grund seiner Geschäftsfreundschaft mit Vertretern bestimmte Lose ziehen, von denen er hofft, daß sie ihm Gewinn bringen werden.

Dieser Zustand hat zwei Folgen: 1. Der Sortimenter ist viel mehr als früher auf den Reisenden angewiesen. Von den besonderen Verkaufsqualitäten des Verlagsreisenden, seiner Bildung, seiner psychologischen Befähigung, seiner Intelligenz und anderen netten Eigenschaften hängt es ab, ob der Sortimenter ihm die angebotenen Bücher abnimmt. So kommt es vor, daß altbewährte Verlage, die zwar gute Bücher herausbringen, aber ungeeignete oder gar schlechte Vertreter haben, nichts absetzen. Daß diese Bücher also, mögen sie im einzelnen vielleicht hervorragend sein, überhaupt nicht an den Leser herankommen. Er hört nichts von ihrer Existenz.

2. Die Beziehung zwischen Sortimenter und Buch, auf der früher die gar nicht zu überschätzende Bildungs- und Erziehungsarbeit eines klugen Buchhändlers beruhte, löst sich auf. Selbst die Produktionen namhafter Autoren bleiben ihm unbekannt, weil die Masse des Ueberangebotes alles erdrückt.

Aber das ist noch nicht das Schlimmste.

Das Schlimmste ist der Novitätenfimmel, und er geht von gewissen Käuferkreisen aus, die prinzipiell keine Bücher lesen, aber meinen, sie verschenken zu müssen. Und weil man nicht altes Zeug verschenkt, verlangen sie neue Ware, frische Semmeln, noch warm vom Backofen.

Ein Verleger, der mich kürzlich in der Bahn ansprach, erzählte mir, daß sich ein grausiger Vorgang in den Buchhandlungen häufig wiederhole: ein Kunde kommt herein und will ein Buch kaufen, um es zu verschenken. Der Buchhändler fragt, für wen und von welcher Art und empfiehlt ihm in seiner Unschuld eins, das er kennt. Es sei zwar schon 1952 erschienen, verdiene aber höchstes Lob. Der Käufer faucht ihn an: er sei nicht zu einem Antiquar, sondern in einen modernen Buchladen gekommen und erwarte füglich, daß er ihm das Allerneueste anbiete. Er könne unmöglich ein altes Buch an seine Angestellten verschenken.

Was soll der Buchhändler tun? Er greift irgendeins heraus, das noch nach Leim riecht, und verkauft es. Und um nicht wieder in derartige Lagen zu kommen, legt er nur noch „das Neueste“ auf den Tisch, und kümmert sich nicht mehr um Werke, die ein paar Jahre alt sind.

Offenbar ist darin mit eine der Ursachen für die von Jahr zu Jahr steigende Buchproduktion, die in keinem vernünftigen Verhältnis zur Nachfrage steht, zu suchen. Viele Verleger können es sich nicht mehr leisten, ältere Werke neu aufzulegen, auch wenn sie es gern tun möchten. So werden Bücher, die in der NS-Zeit verboten oder verfemt waren, auch dann nicht mehr aufgelegt, wenn sie eine vorzügliche Presse gehabt hatten und hohe Auflagen erzielten. Man muß fürchten, daß sie aus oben genannten Gründen nicht mehr abzusetzen sind. Der Verleger muß also dauernd neu produzieren, denn darin liegt für ihn die einzige Chance, daß sein Angebot noch Aufmerksamkeit findet.

Man bemerke, wie sich hier die Schlange in den Schwanz beißt: die Ueberproduktion macht es dem Sortimenter unmöglich, das ihm angebotene Material zu beherrschen und seinen Kundenstock zu beraten und für das sogenannte „gute Buch“ zu gewinnen. Der Kunde verliert das Interesse am Buch und interessiert sich dafür nur noch so weit, als es sich um „frische Ware“ handelt. Das zwingt dem Verleger auf, nach Novitäten zu angeln. Der Kreis schließt sich.

Eine solche Entwicklung muß unvermeidlicherweise zum Ende der Literatur führen, „Literatur“ nicht als Warenmasse verstanden, sondern als geistesgeschichtliche und soziologische Projektion unseres kulturellen Niveaus. Wenn wir nicht die wirklich wertvollen oder nach irgendeiner Richtung bedeutenden Bücher kennen, vermögen wir auch nicht den Pegelstand der zeitgenössischen Literatur abzulesen. Wir können nicht sagen: so oder so ist es um sie bestellt. Wir erfahren von Best-Sellern, von Sensationsprodukten, und es ist als reiner Glückstreffer zu bezeichnen, wenn auch noch Bücher von literarischem Rang ihre Leser finden. Bestenfalls können sie einen Bruchteil ihrer Leser finden, denn ein bedeutendes Buch braucht Jahre, um sich durchzusetzen, und ehe es so weit ist, hat man es schon unter der Masse der Novitäten begraben. So gehen alljährlich viele vorzügliche Werke unter, und weil weder Verleger noch Sortimenter es sich leisten dürfen, ihre Warenlager zum Himmel wachsen zu lassen, schicken die Buchhändler die Exemplare, welche sie im Laufe von zwei Jahren nicht verkaufen konnten, zurück, was für den Verleger das Signal seines Todes ist. Also sofort was Neues drucken!

Wie diesem Zustande abzuhelfen sei, ist eine schwierig zu beantwortende Frage. An irgendeiner Stelle müßte der circulus vitiosus aufgeschnitten werden. Aber wo? Des durchschnittlichen Käufers Gleichgültigkeit und — sprechen wir das Wort ruhig aus — Unbildung ist eine Folge mangelnder Aufklärung. Aufklärung durch die Presse, durch den Sortimenter und zum kleinsten Teil durch den Verleger, denn diesem fehlt ja der direkte Zusammenhang mit den Käuferschichten. Es gab einmal eine Zeit, da gehörte es zum guten Ton, daß man Bücher las und über Bücher sprach. Aber zu jener Zeit versuchten noch die Zeitungen, den Geschmack ihrer Leser zu lenken, und nicht einmal ein Provinzblatt hätte es gewagt, ihnen jene idiotische Bilderserien mit Spruchbändern, die aus dem Kopfe schlecht gezeichneter Figuren kommen, vorzulegen. Der Zeitungsleser erfährt jede Woche den Inhalt der dümmsten Filme und daß die süße Ronny Pipita demnächst sich mit Tom Pickleberry verloben werde. Man frage einen Leser, wer in den letzten drei Jahren den Nobelpreis für Literatur erhalten habe, er wird es nicht wissen. Es gibt natürlich Zeitungen, die gegen diese Ueberwertung des Wertlosen so gut es geht Front machen. Sie sind leider Ausnahmen. Und wenn im Jahr rund 40.000 Neuerscheinungen produziert werden, können sie gegen diesen Wahnsinn auch nichts tun. Da aber allem Anschein nach das Interesse am Buch noch keineswegs gestorben ist, sondern die billigen Ausgaben sogar vorzüglich gehen, hat sich aus dem Zustande der Verstopfung ein Ausweg in zwei verschiedene Richtungen ergeben, welche die Lage etwas verbessern.

Da sind die billigen Rotationsdrucke, mit denen Rowohlt zuerst begann und die heute insgesamt Millionenauflagen zählen, und zweitens sind es die Buchgemeinschaften, welche ebenfalls an die zwei Millionen Mitglieder haben und ausschließlich Werke bringen, die schon mehrere Jahre alt sind.

Die Buchgemeinschaften können es • sich also leisten, gewissermaßen die ältere Literatur am Leben zu erhalten, sie führen Bücher, welche das Sortiment schwer oder gar nicht mehr absetzen kann, aufs neue ihren Lesern zu. Diese Auswege, so erfreulich sie auf den ersten Blick erscheinen, haben auch Nachteile zur Folge, die recht bedenklich sind. Was die „pocket-book“-Ausgaben betrifft, so dringen sie zwar in jene Kreise, die das „teure“ Buch nicht bezahlen können, das ist gut und richtig. Aber ihr niedriger Preis veranlaßt den Käufer, die normal kalkulierten und gleichsam auf dem krummen Rük-ken der Autoren berechneten Bücher für zu teuer zu erklären. Und die hohen Auflagen vieler Buchgemeinschaften zwingen ihre Leiter, auf den Geschmack der Abonnenten Rücksicht zu nehmen und die Unterhaltungsliteratur von Rang zu bevorzugen. Endlich: die wirtschaftliche Lage des Sortiments wird durch das Anwachsen der Buchgemeinschaften nicht verbessert. Das Mitglied einer Buchgemeinschaft verlangt vom Sortimenter, er habe ihm Bücher womöglich zum gleichen Preis und in gleich guter Ausstattung vorzulegen. Das kann er nicht. Also muß er, ob er nun will oder nicht, sein Geschäft mit den Novitäten machen.

Wie auch immer, das bedeutende Buch, das Buch, welches früher der zeitgenössischen Literatur ihr geistiges Gepräge gab, vegetiert im Schatten. Wohin das auf die Dauer führen muß, wird jedem deutlich, der sich von der Statistik darüber belehren läßt, daß vor dreißig Jahren in der Ersten deutschen Republik weniger Neuerscheinungen auf den Markt kamen als 1954 im westlichen Rumpfdeutschland.

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