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ÜBER DEN BLICK

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Der Schalterbeamte in der Stadtbahnstation zwickt meine Fahrkarte. Dann gibt er sie mir wieder zurück. Nur einen Augenblick schaut er auf dabei, aber sein Blick, so wienerisch und für mich daher besonders menschlich, läßt mich die Du-haftagkeit unseres menschlichen Wesens plötzlich fühlen. Als mir dann beim Hinaustreten auf den Bahnsteig ein Mann die Tür offen hält und unsere Blicke sich nolens volens kreuzen, da ist es wieder, als versicherten wir uns gegenseitig unseres Menschentums.

Was ist ein Blick? Man braucht die Frage nicht auf den menschlichen Blick zu verengen, denn das Tier hat keinen Blick. Blick ist Sprache, und Sprache hat nur der Mensch.

Was für ein Unterschied -besteht denn zwischen Hundeblick und Menschenblick? wird man wissen wollen. Wir antworten: Derselbe wie zwischen Hundegebell und menschlicher Rede. Der Hund kann so wenig bücken wie sprechen. Ortega nennt das Bellen eine Quasisprache. Und so ist sein Schauen auch nur ein Quasiblicken.

Sind es aber denn nicht gerade die unschuldigen Blicke der Tiere, die uns den schönsten Trost gewähren? Die wir uns gegenseitig so oft enttäuschen, warum sollten wir uns dieses Trostes durch die „unendlich lieben“ Tiere, wie Ebener sie nennt, berauben? Sprechen nicht die Augen des Hundes so deutlich von seiner Liebe zu uns? Fordern sie uns nicht heraus, mitzu'kommen, oder den Stein zu werfen, sagen sie nicht so gut wie sein Bellen: Komm! oder: Wirf! ?

Eben das bestreiten wir. Nein, der Hund sagt uns nichts und will uns auch nichts sagen. Ihm fehlt, wie der Natur überhaupt, jeglicher Ausdruckswüle, ja — richtig verstanden — Wille schlechthin. Wir vermenschlichen das Tier, wenn wir glauben, eine grausame Natur hindere es, zu sagen, was es gerne sagen würde, wenn es nur könnte. Dem Tier fehlt die Grundbedingung alles Wollens und Nichtwollens, nämlich Freiheit. Natur, die Sprache ist, spricht nicht selbst, sondern wird gesprochen. Gesprochen von jenem Willen, der, nach Schopenhauer, durch Natur sich ausdrückt. In dieser Sprache ist das Tier nur ein Wort. Man hat dieser Unfreiheit der Tiere, Wort im Munde jenes übergeordneten Willens zu sein, den Namen Instinkt gegeben und sie so aus einem Mangel zu einem Besitz gemacht, den der Mensch ihm neidet. Aber Instinkt ist nur die besondere Form der Unfreiheit, die andernfalls das Tier handlungsunfähig machen würde.

Aber sind wir denn frei? Ist nicht unser Körper auch, wie der tierische, bloßes Instrument jenes Willens, darauf zu spielen, wie es ihm, nicht wie es uns beliebt? Sind unsere Handlungen nicht zahllosen Einflüssen unterworfen? Worin besteht unsere Freiheit? Eben darin, zu entscheiden, welchem Einfluß wir nachgeben wollen, welchem nicht. Was immer wir tun, wollen wir auch tun! Und Lessing sagt- darum, so unschön wie richtig: kein Mensch muß müssen! Wenn er nämlich nicht will. Im Wollenmüssen besteht eben unsere Freiheit, zu der wir verdammt sind, wie Sartre sagt. Denn für sie gilt: Jeder Mensch muß müssen, rastlos, pausenlos entscheiden, für oder gegen. Es gibt kein Nichttun für uns, nur Nichtstun, als eine Entscheidung gegen das Tun. allem Menschlichen der Stempel des Schöpferischen und Verantwortlichen aufgedrückt, so auch unserer Stimme und unserem Blick, die beide zu sprechen beginnen. Aber erst durch das Verständnis des Angesprochenen wird die Sprache sinnvoll. Der Begriff des Blickes muß daher auch noch auf das Schauen von Mensch zu Mensch eingeschränkt werden. Der elektrischen Spannung vergleichbar, wird das allein im menschlichen Auge mögliche Blickpotential erst dann den von Mensch zu Mensch wechselnden Blickstrom erzeugen können, wenn der Kreis über ein menschliches Auge geschlossen ist. In diesem Strom, dem menschlichen Blick, kommt dann das Wort in seiner vielleicht subtilsten Form zum Ausdruck. Wie jede Sprache, wird auch die der Bücke nur im Dialog verwirklicht. Wie Selbstgespräch, das ja nichts mitteilt, nicht wirklich Sprache ist, so ist der mongolische Blick in den Spiegel nicht wirklich Bück, nur gleichsam das Echo auf den Ruf der Augen. Und wer mich anzubücken scheint, während er durch mich hindurch ins Leere schaut, wird auch von mir nicht angefolickt, denn er ist gar nicht wirklich da. So gesehen, wird der Blick zu einer Bestätigung der überindividuellen Natur des Menschen.

Wenn wir so, scheinbar überheblich, uns allen Ernstes von allem nur Kreatürüchen getrennt betrachten, wird auch alles bloß Zufällige, Spielerische und dadurch Sinnlose von unserem Leben genommen sein. Doch wir können nicht glauben, daß eine solche Trennung uns zukommt. Weckt nicht Dostojewskys Aufforderung, vor jedem uns begegnenden Menschen niederzuknien, um in ihm Gottes Antlitz zu verehren, peinliche Gefühle in uns? Fühlen wir uns nicht zu unseren Gedanken und Taten stets nur durch unsere natürlichen Bedürfnisse, nie durch höhere Antriebe veranlaßt? Und gebrauchen wir nicht oft genug unsere Vernunft, „um tierischer als jedes Tier zu sein“? Wie sollten wir da glauben können, ein solches Wesen, wie wir, das ganz in der Natur seinen Zweck erfüllt und erfüllen will, sei über die Natur gesetzt?

Dennoch ist der einzige mögliche Fortschritt für uns, der im Menschlichen, über dessen Notwendigkeit jeder Mensch durch sein eigenes Leben belehrt wird, nur dadurch zu verwirklichen, daß der Mensch den Menschen wählt. Uns aber stößt am Menschen eben die Freiheit, die uns als Menschheit erhöht, gewöhnlich zurück. Dann suchen wir, statt im Miteinander das lebendige Wort zu wählen, im Buche der Natur, insbesondere im Tier, das für uns tote Wort, das, wie jenes aus dem Spiegel, immer von uns selbst erzählt.

Wer einmal vor dem Marineaquarium in Triest gestanden ist und von den darin sich wild herumwerfenden Menschenhaien sich angeblickt glaubte, der ist gewiß bei dem Gedanken an eine solche Möglichkeit bei einer Bestie tief erschrok- ken. Wir fühlen da plötzlich, daß wir unfähig sind, außer uns auch noch andere mit Ausdruckswillen begabte Wesen auch nur zu denken. Faust droht zu sterben, als ihm die „Flammenbildung“ des Erdgeistes zu antworten, die bloße Natur ihm ihren Willen kundzugeben scheint. Nein, uns wäre nur allein sein möglich, wenn wir nicht miteinander sein können. Denn noch in unsere Einsamkeit begleitet uns das Bewußtsein, Teil jenes übermenschlichen „Großen Wesens“ zu sein, wie Comte die Menschheit nennt. In solcher Einsamkeit werden wir, bewußt oder unbewußt, im Begegnen unserer Augen mit denen der Mitmenschen unseres Menschseins inne. Selbst wo Gleichgültigkeit unsere menschliche Beziehung zu charakterisieren scheint, wie zwischen dem Stationsschaffner und mir, erkennen wir beglückt im nie rastenden, ewig schöpferisch wirkenden Ausdruckswillen unserer Blicke die Strömung der Menschenwelle, in der wir schwingen.

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