Über die Gewalt eine poetische Decke breiten

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Sieben Jahre ist es her, dass Melinda Nadj Abonji für ihren Debütroman "Tauben fliegen auf" den Deutschen und den Schweizer Buchpreis erhielt. Nun legt die 1968 in Becsej, Serbien, geborene und in der Schweiz lebende Autorin nicht mehr bei Jung und Jung, sondern bei Suhrkamp mit "Schildkrötensoldat" den zweiten Roman vor.

Zentralfigur ist der eigenwillige Zoltán, genannt Zoli, der nach der Misshandlung durch seinen Lehrherrn und dem anschließenden Sturz vom Moped seines wohl wie meist sturzbetrunkenen Vaters zerebrale Langzeitschäden davonträgt. Im Blick seiner Cousine Hanna ist er ein bezaubernder tumber Tor, dessen blitzblaue Augen gleichsam einen anderen Blick für die wirklich wichtigen Dinge des Lebens symbolisieren.

Zoltán widmet sich fortan seinem Garten, dem Hund Tango und dem Lösen von Kreuzworträtseln. Daneben neigt er zu hochpoetischen Gedankenspielen, die mitunter an Paulo Coelho denken lassen. Wenn seine alkoholkranken Eltern streiten und Geschirr zertrümmern, hebt er nicht nur die Scherben auf, sondern wiederholt auch andächtig alle verwendeten Schimpfwörter. Auf Hannas Frage, was das soll, schaut er sie "mit diesen unvergessenen Augen" an und "fast unhörbar sagte er nach einer Weile, Hanna, aber die schlechten Worte -wir müssen sie doch ganz bestimmt auch aufheben". Wenn er seinen betrunkenen Vater ins Bett bugsiert, wünscht er ihm "ein Leben, wie es die Steine haben, aber sicher, jedes Steinchen wird gewaschen und gewärmt, und alles, was warm werden kann, ist kostbar, das wissen Sie doch besser als ich, oder?"

Brutal und hässlich

Jene Kapitel, die Zoltáns Perspektive wiedergeben, sind durchzogen von einzelnen Worten, die im Druckbild mit Blockbuchstaben herausgehoben sind, was auf seine besondere Beziehung zur Sprache wie auf seine Rätselleidenschaft verweist. Dazwischengeschaltet sind Hannas Berichte, die sich nach seinem Tod an ihre Jugendfreundschaft erinnert und von Zürich nach Serbien reist, um sein Grab zu besuchen, seinen Garten und jene Kaserne, in der er den letzten Zusammenbruch erlebte, wenige Wochen später ist er gestorben. Der Roman spielt in den frühen 1990er-Jahren im zerfallenden Jugoslawien, trotzdem haben es seine Eltern begrüßt, als Zoltán zum Militär eingezogen wurde, auf dass aus ihm vielleicht doch noch ein richtiger Mann werde. Das ist gleichsam die letzte große Schuld, die sie ihrem Sohn gegenüber auf sich laden, ohne dass sie davon die geringste Kenntnis nehmen würden.

Abonji beschreibt das Brutale und Hässliche, Schmutzige und Verkommene in Zoltáns familiärem Umfeld genauso wie dann die Perversitäten und Gewaltexzesse in der militärischen Anstalt, doch sie breitet eine poetische Decke darüber, bestickt mit Zoltáns Plaudereien und Phantasien voller grundgütiger Naivität.

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