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Überraschende Bündnisse

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Aber: Jedes noch so vollendete Verbrechen — und der Ausdruck scheint uns bei dem, was an der Seele der deutschen Kinder hier getan wird, keinesfalls zu stark zu sein — hat irgendwo einen Fehler. Die kleine Broschüre zeigt ihn so deutlich, daß wir sie geradezu mit einem zuversichtlichen Aufatmen zu Ende lasen. Es heißt dort nämlich, daß das totalitäre System im Schulwesen angeordnet hat, die Lehrer sollten als sogenannte „Aufklärer regelmäßig die Eltern ihrer Schüler zu Privatgesprächen aufsuchen, um sie für die „bewußte Sache“ (Frieden, Fortschritt usw.) zu gewinnen. Sie sollen über diese Besuche Buch führen, die gehörten Gegenargumente notieren (!) und im übrigen, wenn möglich, einen Funktionär der FDJ mitnehmen. Man kann nur sagen, daß mit dieser Maßnahme das System in seiner Unersättlichkeit ganz von selber jenes Bündnis zustande gebracht hat, um das man sich anderswo vergeblich müht. Der Verfasser der Broschüre läßt einen seiner Lehrer sagen (und wir schließen uns dieser Meinung mit Überzeugung an):

Daß du. Kollege, didi trotz deiner äußeren Zugehörigkeit zu diesem gefährlichen Club in keiner Weise mit ihm identifizierst, ja, daß du einfach aus Gründen der Existenzerhaltung beitreten mußtest, wirst du unter größter Vorsicht deinen Sdiüler- eltem helbringen können. Wenn sie es dann wissen, wirst du bestätigt finden, daß der Kontakt zwischen gleichgesinnten Sdiülereltem und Lehrern in gleichem Maße sich verstärkt wie der ausgeübte politische Druck.“

Dieser Satz scheint uns der Angelpunkt des Ganzen zu sein. Das dort im nachstehenden rekonstruierte Gespräch zwischen Lehrer und Mutter ist die Bestätigung der Theorie. Das Erkennen der gleichen Gesinnung fällt nicht schwer. Denn der Lehrer kann als halbwegs geübter Psychologe aus der unbewußten Haltungsspiegelung des Kindes auf die Gesinnung des Elternhauses schließen.

Und, so paradox es klingt, Existentielles, letztes Vertrauen ist unter der östlichen Diktatur zwischen Gleichgesinnten leichter hergęstellt als in der von tausend Eifersüchteleien durchsäuerten .freien Welt“. Das alte Rezept der Nazis, Schule und Elternhaus gegeneinander auszuspielen, ist hier, den neuesten Richtlinien nach, verlassen. Die totalitäre Freßgier macht blind und gimini Gespräche, wie sie hier aufgezeichhet sind, werden heute bereit zu Tausenden geführt. Des sind wir sicher. Und kein Spitzel kann diesen Kontakt beargwöhnen: er ist ja gewünscht! Die Lehrer diskutieren mit den Eltern vertrauensvoll den Aufbau eines neuen Deutschlands!

Werfen wir von diesem Aspekt au einen Blick auf die Erziehungsformen, die sieh, wenn, wie es den Anschein hat, das Zwangregime in Ostdeutschland noch einige Jahre andauert, herausbildan werden: Der Verfasser der Schrift läßt seinen Lehrer iro Gespräch mit der Mutter sehr richtig und schlüssig ein Programm formulieren:

.Auf der einen Seit nvüeeen wir (die Lehrer) den Kindern die Grundbegriffe des

Marxismus-Leninismus beibringen, nur um , ihnen da6 schulische Vorwärtskommen zu ermöglichen, andererseits müssen wir versuchen, die Kinder zu Menschen in wahrsten Sinn zu erziehen. Das ist nicht ein Akt der Notwehr, sondern es ist gleichermaßen eine Notwendigkeit, das heißt die einzige Möglichkeit, diese Not zu wenden, den Angriff auf unsere Kinder zu parieren!“

Ein solches Programm kann aber nur Hand in Hand mit einem Elternhaus gestaltet werden, zu dem ja der legale Weg eines Kontakts geebnet ist. Dadurch kann der Erzieher in der Schule in einem ungleich stärkeren Maß als bisher die gottgegebenen Erzieheraufgaben der Eltern erwecken und mit den seinen koordinieren. Das Wort Pestalozzis, dessen Pädagogik nach Ansicht der Schuldiktatoren durch die sowjetischen Schulmänner .überholt“ ist, wird seine ureigenste Bedeutung aufleuchten lassen: „Die beste Erziehung liegt doch immer bei den Müttern.“ Durch den regelmäßigen Kontakt mit dem Lehrer können die Eltern ihre Katakombenerziehung des Kindes geradezu synchron gestalten. Es braucht nicht zu dem erziehungsgefährdenden provozierenden Gegensatz zwischen Elternhaus und Schule zu kommen, der bei jedem verantwortungsbewußten Erzieher in der resistance früher das ernstzunehmendste Bedenken darstellte. Wir wollen die praktischen Möglichkeiten hier nicht bis ins einzelne entwickeln. Es steht außer Zweifel, daß sie genützt werden, viel mehr und viel wirksamer, als wir es von hier aus akademisch ausführen können. Dadurch aber steigt die Hoffnung, daß die jungen Menschen auch diese Zeit ohne letzten Schaden an der Seele zumindest noch für einige Jahre überleben können. Je klarer die Fronten, desto überlegter und wirksamer der Kampf. Die Elemente Schule- Elternhaus, in fast allen anderen Staaten zum unersetzlichen Schaden der jungen Generation gespalten und gegeneinander gehetzt (wir brauchen nicht zu weit in der Runde um uns zu blicken), sind gerade dort auf dem besten Wege, sich unter den ohnmächtigen Augen des kommunistischen Totalstaates zu vereinigen. Sie können so zu jenem Sprengstoff werden, der, sicherer als alle Bomben, das Zwangsgebilde von innen har zum Einsturz bringen kann.

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