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ÜBRIGENS: HEUTE IST WEIHNACHT

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Mir fiel ein, daß heute Heiliger Abend sein müsse. Ganz plötzlich war dieser Gedanke über mich gekommen, so daß ich fast erschrak. Ich blieb stehen. Es war auf der 642. Stufe. Ich weiß es noch ganz sicher, daß es auf der 642. Stufe war. Ich habe mit der Axt eine Kerbe in das Holz geschlagen. Sie hat mich später wieder daran erinnert. 642 Stufen war ich emporgestiegen. Jetzt mußte ich mich setzen. Ich war erschöpft. Das schmutzige Hemd klebte naß am Körper und kratzte die Haut. Ich nahm den Schutzhelm ab und strich mit der Hand leicht über den geschorenen Schädel. Die kurzen Haarstoppeln dampften.

Weihnachten, dachte ich, und dieses Wort wehte mich an wie dürres Laub. Ich wollte es nicht glauben, daß schon wieder ein neues Weihnachten heran war. Dann mußte es doch bald ein neues Jahr geben? Ich lächelte ein wenig, denn ich dachte daran, daß der 1. Jänner arbeitsfrei war. Ich rechnete mit den Fingern noch einmal nach, damit ich mich auch nicht irrte. Den letzten freien Tag hatte ich am 16., das war ein Mittwoch, dann der 17., der 18., ja —, ja —, übermorgen also wieder frei — jeden zehnten Tag. Richtig: heute war also wirklich der 24. Dezember. Und ich hatte vorher nie daran gedacht.

Ich löschte meine Grubenlampe, und ganz fern war irgendwo ein Begehr, damit auch die Gegenwart verlöschen zu machen. Eine Sekunde lang rauschten die Erinnerungen auf wie Laub im Wind: Sterne an den Gräsern und der Mond auf der Schulter. Rehe im Wald und ein Weihnachtslied über der Dorfstraße. Eine Schulstube, etwas muffig, ein Lehrer darin mit einer Stimme wie ein alter Fluß. Die Wunderkerze unter dem Christbaum, die braunen Augen meiner Mutter. Zerstörte Städte, Opferfeuer. Labyrinthe aus Stein und Metall, König Minos und ich. Ich muß weitergehen; ja, ich muß weitergehen, sonst bin ich verloren. Von unten sah ich ein Licht blinken. Schwankend kam es näher, wurde größer. Ich knipste meine Lampe wieder an. Langsam erhob ich mich.

643, 644, 645 zählte ich. 777 Stufen lang war diese hölArne Treppe, die von der tiefsten Sohle des Schachtes bis hinauf zum Fahrstuhl führte. Eigentlich waren es, genau gerechnet, nur 772, aber die magische Zahl mit den drei Sieben übte eine solche Suggestion auf uns aus, daß wir alle schworen, wir hätten 777 gezählt. Das Licht hinter mir kam näher. Jetzt waren die Schritte schon dicht hinter mir. Das Licht tanzte auf dem nassen Holz. Ich drückte mich gegen die Wand, um den Eiligen vorbeizulassen.

5: Der andere ging rasch ah mir vörbel. Plötzlich ‘aber wendete er sich um und leucntete mir ins Gesicht. „Ach, du bist es“, sagte er. Ich konnte ihn nicht sehen, denn sein scharfes Licht blendete mich, aber an der Stimme erkannte ich, daß es Robert war. „Warum eilst du so?“ fragte ich ihn. „Mensch, es ist doch schon spät. Ich möchte heute etwas früher im Lager sein. Du weißt doch “ Er verstummte. Ich hatte ihn ganz verwirrt angesehen. „Ach so“, sagte ich nur. Robert war stehengeblieben, er spielte mit seiner Lampe und zeichnete mit dem Lichtkegel Kreise und Figuren auf den Boden.

Nach einer Weile gingen wir, ohne noch etwas zu sagen, weiter, den schwarzen Schlund hinauf. Ich dachte: Wir sind verloren. In Deutschland halten sie uns für tot, denn wir dürfen nicht schreiben. Keiner weiß etwas von uns. Und unser Urteil: Fünfundzwanzig Jahre. Das bedeutet so viel wie lebendig begraben — für immer. Robert vorn sagte etwas. „ bei uns ist es jetzt vier Uhr “ hörte ich heraus. Vielleicht mußt du hier sterben, dachte ich weiter. Vielleicht werden wir alle hier sterben. In Rußland ist viel Platz für Lebende, aber noch mehr Platz für Tote Wir waren auf der obersten Sohle angekommen und gingen zusammen zwischen den schmalen Schienen. Scharfe Lichter kamen uns entgegen. Es war die neue Schicht. Ich sah sie, wie sie als helle Lichtbündel an uns vorbeihuschten: das große Heer der Wartenden. Sie haben gewartet, bis sie mannbar wurden, sie haben gewartet, bis der Krieg sie geholt hat; dann haben sie auf Post gewartet, auf Urlaub, auf den Sieg — und später auf das Ende des Krieges; sie sind in Gefangenschaft geraten und warten jetzt noch mehr; sie warten auf ihre Ration Brot, auf neue Gerüchte, auf ihre nächtlichen Träume, und sie warten auf die Heimfahrt. Auf den Tod warten sie nicht. Keiner von ihnen spricht davon. Nicht daran denken.

Wir waren am Lift angelangt. Ein kleiner, dicker Ukrainer mit einem Rübengesicht gab das Klingelzeichen. Es schepperte dreimal. Nicht daran denken. Nicht an das. Und nicht an Weihnachten, fiel mir ein, während wir hochfuhren. Robert schaukelte seine Lampe. Er lächelte wieder. Vielleicht dachte er an das Vergangene. Oder an die Zukunft. Er legte seine Lippen ganz nahe an mein Ohr. Ich spürte seinen Atem. Ich schloß die Augen. Es war ganz dunkel, und wir glitten durch die nasse Zugluft nach oben. Er sagte: „Wenn ich wieder in Freiheit bin “ Ich hörte nicht weiter. Es war der große, magische Satz, mit dem alle Gespräche im Lager begannen.

Als wir draußen waren, schneite es. Es war nicht so kalt wie gestern, aber der Wind schnitt scharf ins Gesicht. Die kurze Strecke vom Fahrstuhl bis zu den Umkleideräumen, die im Hauptgebäude lagen, genügte, unsere warmfeuchte Grubenkleidung gefrieren zu machen. Ich spürte, wie meine Jacke steif wurde, und hörte sie knistern, als ob sie neben mir ginge. Ich wußte, gleich werden sie mit fröhlichem Gesicht auf dich zustürzen, und sie werden sagen: „Hallo, weißt du, daß heute Heiliger Abend ist?“ Und sie werden mir die Hand schütteln wollen und dann (zum wievielten Male eigentlich): „Ich wünsche dir, daß du das nächste Jahr schon in der Freiheit feiern kannst “ und was man sonst noch sagt. Ach, es war immer das gleiche. Nein, heute wollte ich es nicht mehr hören.

In der Stolowaja nahmen wir unser kärgliches Mahl ein: Kapusta und etwas Haferbrei. Erst als ich in der Baracke war, streifte ich auch die innere Kälte von mir ab. Eigentlich wollte ich heute mit keinem sprechen, aber ich hatte Angst, die Erinnerungen würden mich wieder überfallen.

Ich sah Klaus am Ofen sitzen. Er hielt ein Stück Papier vor den Augen und las beim trüben Schein der nackten Glühbirne. Ich ging auf ihn zu. „Was liest du?“ fragte ich und bemühte mich, in die Stimme etwas Fröhlichkeit hineinzulegen. Mit ihm kann man reden, dachte ich dabei. Der feiert heute schon das achte Weihnachten in der Gefangenschaft, der wird bestimmt nicht ,davon anfangen. — „Ach, nichts“, sagte er und legte das Papier weg. Er sprach nicht weiter. Ich nahm neben ihm Platz. „Rauchen wir erst einmal“, sagte ich fast fröhlich und holte Machorka und Zeitungspapier hervor. „Woran denkst du?“ „Ob sie mein Geschäft beschlagnahmt haben. Du weißt doch, ich wohne in der Ostzone.“ Er sagte es ganz ruhig, mit einer Spur nördlichen Dialekts. „Es heißt, sie machen aus allen Privatgeschäften HO oder wie das heißt.“ Ich überlegte. „Was hast du für ein Geschäft?“ — „Einen kleinen Zigarettenladen“, sagte Klaus und schob die Tabakreste mit der Handfläche zusammen. „Aber meine Frau könnte mit dem Kind davon leben.“ Ich schwieg. Den Wind hörte man draußen dumpf bellen wie einen Hund. — Er denkt bestimmt an Weihnachten, aber er wagt nicht davon zu spfdchehyöberfiel’eämichiiUnd er wird denken:.Warum sagt er nichts? Er weiß doch genau-, daß heute Heiliger Abend ist.

1 — „Pürga wird es geben“; sagte ich und erhob mich. Ich hatte plötzlich das Gefühl: Du mußt hier weg. Gleich wird er „davon“ anfangen. Und das wollte ich heute nicht hören. Ich ging weiter.

Es blies zur Povjerka, zum Zählappell. Bei schlechtem Wetter wurden wir in der Baracke gezählt. Ich löschte die Zigarette aus und stellte mich in die Reihe. Der Aufseher trat stampfend ein, er lachte über sein breites, pockennarbiges Mongolengesicht. Er schleuderte einige Flüche heraus auf das schlechte Wetter, auf seine Mutter und auf das Vaterland, dann rief er mit schwerer Zunge mühsam unsere Namen auf.

Neben mir stand Wello, ein junger Este, mit einem dunklen und fremden Gesicht. Ich habe mit ihm mehrere Wochen am gleichen Platz gearbeitet, da hat er mir seine Geschichte erzählt. Er wurde verhaftet, weil er in seinem Lateinheft ein Flugblatt verborgen hatte. Ich legte ihm die Hand auf die Schulter. Er blickte mich groß an. Ich dachte: bei euch in Estland feiert man heute auch Weihnachten, nicht wahr? Du blickst so nachdenklich. Erinnerst du dich an jene Zeit, da du noch frei warst? Es tut weh, ich weiß es. Und du bist noch sehr jung. Wie alt? Achtzehn? Neunzehn? (Ich rief schnell meinen Vornamen und das Geburtsjahr in Russisch, denn eben wurde mein Name vom Posten genannt). Wello sagte leise: „Ich habe heute die französische Grammatik bekommen. Da könnten wir zusammen daraus lernen.“ Ich nickte nur. Er denkt nicht an Weihnachten, wie gut! Ich ließ die Hand von seiner Schulter fallen. Es ist besser, wenn man nicht daran denkt. Es tut nur weh. Schnell schlafen gehen und vergessen. Der Aufseher ging durch die Reihen und zählte zur Kontrolle ein zweites Mal. Dann ließ er wegtreten. Ich war hundemüde. Ich ging zu meiner Pritsche und kleidete mich aus. Erst die Schuhe. Dann die Wattehose. Ich überlegte, ob ich auch den Pullover ablegen sollte. Heut nacht wird es bestimmt kalt werden. Der lange Berliner mit den aufgeworfenen Lippen kam vorbei. Er blieb vor mir stehen. „Sag mal“, er stotterte, „ hast du nicht was zu rauchen? Ich bin ganz abgebrannt.“ Mich durchlief es ganz heiß. Der weiß bestimmt, daß heute Heiliger Abend ist, dachte ich. Es schmerzt ihn, daß er heute zum Festtag nichts zu rauchen hat Ich warf die Hose auf den Schemel. Schnell, als fürchtete ich, er könne fortgehen, zerrte ich an meinem Kopfkissen und holte ein ganzes Päckchen Machorka hervor. Vielleicht wird er sich wundern, wenn ich ihm das ganze Päckchen gebe. (Wieviel habe ich dann noch? Ein halbes Päckchen. Na, das reicht mir.) Vielleicht merkt er, daß ich es ihm nur gebe, weil heute Weihnachten ist.

Ich sah, wie meine Hände zitterten. Ich hatte plötzlich Angst, er könnte das Geschenk ablehnen. „Hier hast du.“ Ich drückte ihm den Machorka in die Hand. „Du kannst das ganze Päckchen behalten. Ich habe noch genug davon.“ Ob er mir jetzt frohe Weihnachten wünschen wird? Ich blickte ihn von der Seite an. Er war etwas verwirrt. Er stammelte. Aber schon hatte er das Papier aufgerissen. „Warte nur“, sagte ich schnell, „ich gebe dir noch etwas Papier.“ Und ich riß vom halben Zeitungsblatt die Hälfte ab. Ich merkte nicht, wie ich das Papier in der Erregung zerknüllte. Gleich wird er sagen: Weißt du, daß heute Weihnachten ist? Er nahm das Papier und sagte etwas burschikos: „Dank auch.“ Dann ging er, Ich kletterte auf meine Pritsche; Während'ich mich in die.'dühhe Schlaf decke einhüljte, 'dächte Icji: ÄTiell cht ist heutfe noch nicht Weihnachten. Und ich zählte an den Fingern die Daten ab. Aber es stimmte.

Die erste Lampe in der Baracke wurde gelöscht. Was war eigentlich mit mir los? Zuerst wollte ich nicht an Weihnachten erinnert sein. Jetzt lauschte ich überall, ob die anderen „davon“ sprachen. Und weil es keiner tat, ärgerte ich mich. Ich schloß die Augen. Gleich werden wieder die Erinnerungen da sein. Die zweite Lampe wurde'gelöscht.

Peter, mein Untermann, zog sich rasch aus. Er blickte zu mir. Ich spürte es. Aber ich hielt die Augen geschlossen. Sekundenlang betrachtete er mich. Dann legte er sich auch hin. Vielleicht wollte er mir sagen, daß heute Weihnachten ist? Die letzte Lampe erlosch. Es war ganz finster. Jemand tastete im Dunkel zu meinem Bett. Ich hörte, wie ein Schemel umgeworfen wurde.

Ich beugte mich hinunter. „Peter“, flüsterte ich. Er richtete sich.halb auf. Ich sah, wie sein Gesicht, das weiß und friedlich in der Dunkelheit leuchtete, auf mich zuglitt. „Übrigens — heute ist Weihnachten hörte ich es von meinen Lippen tropfen. Das Gesicht unter mir verharrte eine kurze Weile so. Dann sank es wieder zurück und verschwand im Dunkeln. Es blieb ganz still. Mein Hals war ausgetrocknet. Da sagte es plötzlich von unten: „Halt die Fresse!“ Es klang sehr bitter. Und ich ahnte mehr, als ich es sah, wie Peter die Decke fest über seinen Kopf zog. Ich legte mich wieder zurück. Sie haben alle nicht vergessen, daß heute Weihnachten ist, dachte ich befriedigt. Eine Sekunde lang rauschten die Erinnerungen auf wie Laub im Wind. Dann schlief ich ein.

Vorabdruck aus „Ein Licht auf Erden“ — Advents- und Weihnachtsbucb. Nymphenburger Verlagshandlung, München.

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