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Um die Deutung des Ostens

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Gewiß ist heute die Ost-West-Achse die Hauptkoordinate des gegenwärtigen epochalen Konflikts, der dies unsere „eine“ Welt in zwei feindliche Blöcke zu zerspalten droht.

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Gewiß ist heute die Ost-West-Achse die Hauptkoordinate des gegenwärtigen epochalen Konflikts, der dies unsere „eine“ Welt in zwei feindliche Blöcke zu zerspalten droht.

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Angesichts einer Welt, in der zwar die weitesten räumlichen Entfernungen auf einige Flugstunden zusammengeschrumpft sind, dafür aber die religiösen, politischen und menschlichen Spannungen mit um so größerer Heftigkeit zur Auswirkung gelangen, scheint sich das Bild einer in Wahrheit und Liebe geeinten All-Menschheit, wie es den diesjährigen Salzburger Hochschulwochen vorangestellt wurde, in einen schöner Wunschtraum zu verflüchtigen.

Gewiß ist heute die Ost-West-Achse die Hauptkoordinate des gegenwärtigen epochalen Konflikts, der dies unsere „eine“ Welt in zwei feindliche Blöcke zu zerspalten droht; allein es wäre verfehlt, wollte man alle in der heutigen Welt vorhandenen Spannungen auf diese eine Koordinate reduzieren — denken wir nur an die jüngsten Vorgänge in Asien, Afrika und Südamerika! Zudem haben wir uns viel zusehr daran gewöhnt, in dem gegenwärtigen Weltkonflikt ausschließlich eine Gegnerschaft kontradiktatorischer Gesellschaftsformen, Ideologien oder Produktionssysteme zu sehen; in Wirklichkeit geht es darin jedoch um viel mehr. Ernst Jünger schreibt in einer seiner letzten Veröffentlichungen, daß es im Ost-West-Konflikt um eine tiefere, menschlichere Realität ginge, jenseits aller vordergründigen Widersprüche und Unterschiede. „Diese menschliche Seite“, schreibt Jünger wörtlich, „muß berührt werden, damit begreiflich wird, was unter der geographischen und politischen Oberfläche und ihren wechselnden Figuren'vor sich geht.“ In solcher Schau gewinnen dann die Begriffe „Ost“ und „West“ über ihre vordergründige, geopolitische Bedeutung hinaus den Charakter von Symbolen für zwei fundamentale Urdimensionen des Menschseins überhaupt, die zueinander in einem polaren Spannungsverhältnis stehen.

Dieses polare Spannungsverhältnis, wie es gerade in der Unterscheidung der beiden geistigen Hemisphären zum Ausdruck kommt, ist an sich keineswegs unfruchtbar, auch wenn es sich in der historischen Wirklichkeit oft genug äußerst verhängnisvoll ausgewirkt hat. Unfruchtbar wird die Polarität erst dann, wenn — wie dies heute der Fall ist — die ursprüngliche Spannungseinheit zerfällt, indem einer der beiden Pole seine spirituelle Potenz einbüßt. Heute begegnet der westliche Mensch im Osten vielfach nur mehr seinen eigenen, entfesselten Möglichkeiten. Treffend sprach daher der bekannte Publizist Dr. Stefan Teodorescu — ein gebürtiger Rumäne und Orthodoxe, der heute in Deutschland lebt — von der „Entzauberung des Ostens“ und berührte damit ein sehr wesentliches Phänomen: Der Osten, einst ein Reservoir an Vitalität und geistigen Potenzen, besitzt heute kein Geheimnis mehr, keine Faszination im alten Sinne, wenn wir von jener Angst absehen. Die Reste der früheren Hoffnung, die der Westen gerade auf Rußland setzte, das Grandiose des Ostens, das trotz aller Reserve zu Recht bestand, scheint jetzt einer ungeheuren, geistigen Sterilisierung und De-potenzierung Platz zu machen als Preis für die forcierte Industrialisierung und Technisierung des Riesenreiches. Rußland, dessen Elite für jedes mittelständlerische Ethos seit je nur Verachtung übrig hatte, steht heute selbst in einem ungeheuren Prozeß der Mediatisierung; nicht nur soziologisch durch die Entstehung einer breiten Spezialisten- und Funktionärsschicht zur Bedienung des technischen Apparats, sondern auch geistig.

Die eigentliche Tiefendimension in der Begegnung von Ost und West offenbart sich heute vor allem in der Berührung mit den großen geistigen Überlieferungen Ostasiens. Hier liegt ohne Zweifel das große, geistige Ereignis unserer Zeit. Mag auch der tiefere Sinn dieses Ereignisses noch nicht in das Bewußtsein der meisten Christen gedrungen sein: die Salzburger Hochschulwochen haben ihn uns in seiner ganzen Tragweite erschreckend klar vor Augen gestellt. Was wir heute erleben, ist geradezu eine geistige Invasion Asiens, das dem Abendland gegenüber mit dem Anspruch der überlegenen, spirituellen Potenz auftritt. Der bekannte deutsche Religionsphilosoph und Missiologe, Professor Dr. Thomas Ohm, Münster, schildert sehr eindrucksvoll diese Situation der Unterwanderung Europas mit östlichem Geistesgut, in der der Satz vom „Licht, das aus dem Osten kommt“ zur erneuten Geltung gelangt ist und die uralten Heilswerte Asiens, wie „Friede“, „Erlösung“, „Heil“ eine ungeheure Anziehung auf zahlreiche christentumsmüde Europäer ausüben.

Zahlreiche bedeutende Repräsentanten des Hinduismus vertreten heute die Ansicht, das Evangelium besser zu verstehen als die Christen, die durch ihre Intoleranz das Gesetz der Bergpredigt verraten hätten. Dagegen gab der bekannte Religionsphilosoph und Botschafter der Schweiz in Indien, Dr. Jacques Albert Cut tat, Neu-Delhi, zu bedenken, daß es zwar Darstellungen hervorragender Orientalisten gibt, die tief in das Wesen östlicher Spiritualität eindringen, aber keine einzige asiatische Interpretation des Christentums, die auch den Christen restlos zufriedenstellen könnte; allein diese Tatsache weise bereits darauf hin, daß die östliche Spiritualität auf eine umfassendere Geistigkeit hin angelegt ist, die sie selbst einzuschließen und aufzufangen vermag, ohne ihre positiven Werte zu schmälern.

Wenn die asiatische Spiritualität den westlichen Menschen heute einerseits mit magischer Gewalt anzieht, anderseits jedoch ebenso stark abstößt, so liegt dies, wie Dr. Cuttat sagt, vor allem daran, daß in der östlichen Sphäre die eigentlich personale Sphäre vollkommen ausfällt: Die asiatische Spiritualität ist wesensmäßig blind gegenüber dem Personalen, gegenüber dem absoluten und dem mitmenschlichen Du. Sie ist eine geistige Tiefe ohne Beziehung. Heute sieht sich diese apersonale Spiritualität Asiens mehr und mehr dem antipersonalen Geist der modernen Technik gegenüber, und es ist noch nicht abzusehen, was diese Begegnung für die östliche Geistigkeit bedeuten wird.

Scharf wandte, sich Cut.tat gegen jene, Theologen, die der Meinung sind, man könne' sich eine Auseinandersetzung mit dem Hinduismus ruhig ersparen, da dieser über kurz oder lang ja doch zusammenbrechen werde. Zwar stellt er eine solche Möglichkeit nicht a priori in Abrede, ist jedoch mit Recht der Auffassung, daß sich die glaubenslos gewordenen Massen Ostasiens ihrer ganzen geistigen Struktur nach viel eher dem Kommunismus als dem Christentum zuwenden werden. Nur die Erneuerung der monotheistischen Spiritualität und ihr Ausstrahlen bis in die soziale Sphäre hinein könne noch eine echte Beziehung zwischen Ost und West herstellen, wobei das apostolische Wirken immer mit dem Ringen um die eigene Heiligung beginnen muß. Erst dieses Ringen schafft Beziehungen von Tiefe zu Tiefe, die einen zentralen Faktor des Weltgeschehens darstellen.

Im Grunde steht hinter dem so selbstbewußten, überlegenen Antlitz Asiens die eine Frage, die uns Christen zutiefst ins Herz treffen müßte: Habt ihr, die ihr vorgebt, die wahre Lehre zu besitzen, uns jemals das wahre Antlitz Christi gezeigt?

Gerade die diesjährigen Salzburger Hochschulwochen haben sehr deutlich gemacht, daß sich heute das Christentum der asiatischen Spiritualität gegenüber in einer ähnlichen Lage befindet, wie einst in der Spätantike gegenüber der Gnosis und dann im 13. Jahrhundert gegenüber dem arabischen Aristotelismus. Heute wie damals geht es einerseits um die „Unterscheidung des Christlichen“ (Romano Guardini).

Sehr tief hat Professor Dr. P. Thomas Ohm, der Altmeister der katholischen Religionsphilosophie im deutschen Sprachraum, den eigentlichen Sinn der gegenwärtigen Begegnung mit Asien ausgedrückt, wenn er sagt, daß in Asien heute der Schlüssel zu unserem eigenen christlichen Selbstverständnis liege. Ost und West sind ja, nach Dr. Cuttat, - nicht nur geistige Hemisphären, sondern grundlegende Dimensionen des Menschseins überhaupt. Sollte der tiefere Sinn der Begegnung zwischen Ost und West nicht gerade darin liegen, daß sich der durch die Säkularisierung veroberflächlichte Westen wieder auf jene Dimension der Tiefe besinnt, die in seinem eigenen Wesen verschüttet wurde? Im Letzten freilich ist — und darin liegt, glaube ich, das entscheidende Wort dieser Hochschulwochen — gerade das Christentum weder „östlich“ noch „westlich“, sondern einfach die Wahrheit im Sinne des herrlichen Goethe-Wortes: Gottes ist der Orient, Gottes ist der Okzident

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