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UM DIE GANZHEIT DER MUSIK

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IM MUSIKLEBEN DER LETZTEN JAHRE hat die innere Entwicklung, wie sie jedem geistesgeschichtlichen Gebiet eigen ist, eine Rasanz und Aufdringlichkeit wie nie zuvor erreicht und die äußeren Merkmale dieser Entwicklung — jedoch keineswegs die Materie selbst — in den Mittelpunkt öffentlicher Diskussionen gerückt. Ohne Stolz müssen wir feststellen, daß gerade unsere Breiten zum geeignetsten Studienobjekt geworden sind, um das vorläufige Zwischenresultat einer latenten Krise aufzuzeigen.

Es wäre zweifellos interessant, diese Entwicklung historisch darzustellen. Die Situation der Musik aus der geschichtlichen Ganzheit zu sehen, erscheint heute nicht so wichtig, als dieses Gefühl für die Ganzheit innerhalb der Grenzen der Musik selbst wiederzufinden. Das Gefühl für die Ganzheit der Musik, für die Absolutheit ihrer Forderung und ihr Verhältnis zum Absoluten, ist heute in einem so erschreckenden Maß verlorengegangen, daß ihre Grundlagen, ihr Wesen als Kunst selbst in Gefahr geraten sind.

Betrachtet man diese ursprüngliche Ganzheit der Musik und des Musiklebens schichtenweise, gleichsam von außen nach innen fortschreitend, so drängt sich zunächst die letzte und unmittelbar alarmierende Phase einer mit tödlicher Stetigkeit verlaufenden Entwicklung auf: der Wurm, der tief im Inneren, im Kern, sitzt, hat die Außenseite erreicht und in einer Weise entstellt, daß der „Geruch" eines an Machtkämpfen, Intrigen. Skandalen und hysterischen Starrummeln verkommenden Musiklebens bereits zum öffentlichen Aergernis geworden ist. Die Tagespresse, die sich keineswegs vom Heulen mit den Wölfen ausschließt, bietet dafür täglich neue Beispiele. Es ist wohl keineswegs ein Zufall, daß sich diese letzte und schmerzlichste Phase eng mit dem Aufstieg eines Dirigenten verbindet, den nicht nur sein eigener Ehrgeiz, sondern viel mehr noch eine lange Entwicklung auf eine Machtposition geschwemmt hat, wie sie vor ihm nur politische Diktatoren, niemals aber Künstler innehatten.

DIE ÄUSSEREN MERKMALE dieser Machtzusammenballung sincl zu bekannt, um sie einzeln anführen zu müssen. Doch scheint mir sehr wesentlich, auf ein Phänomen hinzuweisen, das ebenfalls aus der politischen Geschichte bekannt ist: die Bildung dessen, was man -in der Naturwissenschaft als „Inertialsystem“ bezeichnet, eines in sich völlig abgeschlossenen Bezugssystems relativer Werte, das dann infolge dieser Abgeschlossenheit absolut gesetzt werden kann. Dieses Musikimperium wird gegen nicht konforme Einflüsse der Gegenwart ebenso wie der Vergangenheit künstlich abgeschlossen. Zum Teil ist dies freilich auch die Schuld des Publikums, das sich nur zu gern die Unbequemlichkeit einer eigenen Auseinandersetzung mit Werk und Leistung und einer eigenen Meinungsbildung durch die nicht einmal glänzende Maske eines Komplotts ersetzen läßt, an dem Herrschsucht und Geldgier ebenso beteiligt sind wie Dummheit und Schwäche. — Dostojewskys Legende vom Großinquisitor besitzt wieder (oder nach wie vor?) unheimliche Aktualität: der Großteil der Menschen will die geistige Freiheit nicht, weil er nichts damit anzufangen wüßte. Der Pakt ist fest und haltbar geschlossen: indem dem Publikum unaufhörlich bescheinigt wird, daß es durch absolute Anerkennung bestimmter Personen und Aufführungen „wahre Kunst" beweist, wird ihm ein geistiger Standard — ein recht niedriger Standard — aufoktroyiert, der die sichere Gewähr für die Beständigkeit der aufgebauten Macht bieten soll. Auf der einen Seite mühelos anzueignende Kultursurrogate als Ersatz für ein Gesellschaftsleben, das seine inneren Werte verloren hat, auf der anderen Seite Macht und

Geld — diese Interessengemeinschaft hält zusammen wie Pech und Schwefel.

DRINGT MAN UNTER DIE ÄUSSERE SCHALE, so wird die Problematik ernster, wesentlicher — und sie ist auch nicht mehr so neu; neu ist allerdings der geistige Niveauverlust, der heute sichtbar wird. Die Problematik in ihrer früheren Gestalt betraf die Ganzheit von Kunst und Leben und die fruchtbare Polarität der künstlerischen Betrachtungsweise, die nur das Leben will, und der wissenschaftlichen Betrachtungsweise, die ordnen und zusammenfassen will. Was damals jedoch als übermäßiger Pendelausschlag aus der erstrebten Synthese in Richtung eines Extrems (des wissenschaftlichen) erschien, setzte sich dann als Preisgabe beider Prinzipien fort! Zwar versucht die Legislative des „Inertialsystems", äußeren Schliff und Kunstfertigkeit — unter häufiger Profanierung des Namens Toscanini — an die Stelle der wissenschaftlichen Betrachtungsweise, und eigenartige massenpsychologische Phänomene, wie sie in -solchen abgeschlossenen Systemen oft als „Magie", als eine Art Pseudomythos, erscheinen, an die Stelle der künstlerischen Betrachtungsweise zu setzen. Unter diesem Gesichtspunkt scheint nun freilich eine neue Synthese zu gelingen, eine Synthese auf anderer, keineswegs künstlerischer Ebene. Der bekannte Starkult ist die unmittelbar wahrzunehmende, eine weitgehende Mißachtung des Werkes, der Musik selbst, eine offenbar schwieriger zu erkennende Folge. Von primärer Wichtigkeit scheint heute der sogenannte „Aufführungsstil“ zu sein — als ob ein Werk nach einem anderen Maßstab als jenem seiner eigenen inhärenten und höchst individuellen Gesetzmäßigkeit gemessen werden könnte. Doch heute erscheint es ebensowenig als Sakrileg, daß die größten Meisterwerke der Literatur als Demonstrationsobjekt eines originalen und unnachahmlichen Dirigierstils dienen.

DIESE TYPISIERUNCSTENDENZ, die bei Gruppen von Musikwerken (Klassik, Romantik usw.) begann und heute bei der persönlichen Faszinationskraft einzelner Künstler auf einen bestimmten Publikumstyp angelangt ist, stellt eine Verletzung der Ganzheit der Musik dar, die bereits zum innersten Kern der Problematik, zur Quelle des Künstlerischen in der Musik überhaupt, führt. Hier ist der Niveauabfall am erschreckendsten. Ist es die Aufgabe des schöpferischen wie des nachschöpferischen Musikers, „die Begnadung, die Intuition eines .Ganzen' ... in die lebendig-blutvolle Gegenwart hereinzureißen, sie in die Wirklichkeit des Werkes. zu zwingen“ (Furtwängler), so folgt daraus als eigentliches Wesen der Musik eine gegenseitige Durchdringung von Sinnlichkeit und Geist, wie sie nur einer echten Liebes- vereinigung — und Musizieren war und ist für wahrhaft große Künstler eine Liebesvereinigung mit Werk und Publikum — als letzte Gnade beschieden sein kann. Dieses alles umschließende Band der „Liebesgemeinschaft“ ist zerrissen. Es gibt weder Liebe noch Demut im Musikleben noch auch Ehrfurcht. Das neue Wertsystem läuft vom „Interessanten" bis zum „Faszinierenden". Interessant — das ist der von seinem sinnlichen Nährboden losgelöste und zum Verstand verdorrende Geist, wie er leider zum Teil auch die gute Sache der Moderne kompromittiert. Als faszinierend aber gilt der von jeglichem Mythos entkleidete Eros, die niedere Sinnlichkeit des leeren Klangrausches, wie der nicht aus dem Werk, dem Ganzen, stammende Effekt. Auf dieser Basis erst entfaltet sich dann die Differenzierung des Musizierens, und das Unnatürliche, raffiniert Parfümierte und Affektierte der dominierenden Resultate rückt ebenso wie die spezifische Art des offen betonten „Sex-Appeals“ ihrer Repräsentanten diese Entwicklung in eine bestürzende Parallele zu Massenhysterien auf dem amerikanischen Unterhaltungssektor.

DIE VERLORENGEGANGENE GANZHEIT von Sinnlichkeit und Geist, von Kunst und Leben und von Geschichte und Einzelsituation kann nur vom innersten Kern aus, von der Liebe, neu aufgebaut werden — und damit auch nur auf höchstem ethischem und ästhetischem Niveau. Wir brauchen wieder die Naivität, um die natürliche Einfachheit der Größe ohne Nervosität und ohne Ablenkung darstellen und aufnehmen zu können. Der Kult der Persönlichkeit kann — so paradox dies klingen mag — nur durch die wahre Persönlichkeit aufgehoben werden. Auch hier zeigt sich wieder jene geheimnisvolle Parallelität in der Geschichte, die uns an die Manifestation eines höheren Geistes glauben läßt: der allgemeine Niveauabfall im Musikleben tritt fast genau in jenem Zeitpunkt zutage, in dem eine unüberbrückbar scheinende Leere zwischen den wenigen Großen unter den Lebenden und den jungen Talenten entstanden ist; diese Talente selbst aber werden heute noch vor ihrer eigenen Festigung von den Systemen absorbiert und zu ihren Dienern gemacht. Fast scheint es, als hätten die großen Kämpfer unter den Musikern — Toscanini und vor allem Furtwängler — mit übermenschlicher Kraft eine Flut zurückgedämmt, die sich nun hemmungslos ergießt. Doch noch besteht im wesentlichen die Ganzheit des Menschen, die Möglichkeit eines aus eigener Kraft erfolgenden Ausbruches aus diesem Circulus vitiosus; daraus können wir auch heute noch den Mut schöpfen, uns zu den Schlußworten in Furtwänglers letztem Vortrag zu bekennen: „Die Kunst ist der Mensch, der sie schafft. Solange ich an den heutigen Menschen glaube — freilich nicht nur an, die begrenzte und verkrampfte Abart des im Gefängnis des eigenen Denkens gefesselten, sondern an den modernen Menschen im Ganzen, mit seiner Breite, Tiefe, Liebe, Wärme und Erkenntnis —, so lange lasse ich mir auch den Glauben und die Hoffnung an seine Kunst nicht nehmen.“

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