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Um einen neuen Realismus

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Das moderne Theater kennt verschiedene Wege der Flucht: der Flucht vor der uns allen bedrängenden Enge des Alltags, der täglichen Sorgen, der grausamgrauen Wirklichkeit, die unser tägliches Brot ist. Flucht in den Traum, in die Illusion einer mehr oder minder falschen Romantik. Das typische Happy-End-Stück, welches in Pillenform verabreicht, in Film-, Bühne- und Buchformat gleichermaßen beruhigend einschläfernd, versöhnend wirken soll. ,

In etwas feinerer Form berührt dasselbe Thema die Rhetorik des idealistischen Dramas, das Pathos der „Helden“ -— die laute Stimme der Theaterheroen, welche von der Bühne herab der Welt Lösung ihrer Konflikte, „Erlösung“ verheißen und in verhängnisvollen, verwirrten Momenten der Weltgeschichte ins Publikum herabgestiegen und als „Propagandisten der Idee“ und „Männer der Tat“ aus dem Käfig der Bühne ausbrechen in den dynamischen Raum der Wirklichkeit. „Helden und Heldenverehrer“: eines der wichtigsten Kapitel deutscher Geschichte des 19. Jahrhunderts, welches erst geschrieben werden muß, wird zugleich Theater-, Geistes-, Seelen- und politische Geschichte umfassen müssen. Die modernen Autoren sind seit Schiller und Richard Wagner etwas vorsichtiger geworden, sie flüchten mit den erdachten oder anempfundenen Problemen ihrer Seele in den Mythos einer zeitlosen Antike oder auch einer überzeitlich sich gebärdenden Unzeitlichkeit, also in einen völlig imaginären Raum techni-zistischer Konstruktion, sehr eigenwilliget Spekulation — und überlassen es dem Publikum, in Scherz oder Ernst, mit Weinen, Kopfschütteln oder Lachen die Problematik ihrer Stücke anzunehmen... Bekanntlich sind seit den „Gedankenexperimenten“ Georg Kaisers und Pirandellos in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg die Franzosen, dann auch die Amerikaner bahnbrechend in dieser Richtung geworden . . . Unsere mitteleuropäischen Autoren hingegen haben es meist vorgezogen, den festen Boden handlicher Wald- und Wiesenromantik zu bebauen, etliche haben am Waldrand kurzfristige Wochenendhäuser erbaut, „Problemstücke der Zeit“, so fragwürdig wie diese — das Gros jedoch läßt seine Stücke in einem luftleeren Raum spielen — jenseits von Gut und Böse, oder maskiert in zeitlichem Gewand urewige Typen des Allerweltstheaters. Wenn das Spiel aus ist, hat, wenn es gut geht, das Theater seine Einnahmen, das Publikum seine Ausgaben . .. Das Theater als Geschäft der Illusionen, als angenehm-anständiger Handel mit bescheidenen Hoffnungen und Erwartungen, Wünsdien und Beschwerden — diese Form des „Betriebs“ hat sich bereits seit geraumer Zeit immer stärker durdigesetzt; die staken und strahlenden Lichter, welche einzelne Bühnen in einigen Stücken aufzusetzen wissen, beleuchten nur die in mattem Taubengrau und bleidiem Rosa verschimmende Landsdiaft unserer üblichen Komödienwelt.

Die intelligenteren Autoren haben diesen Tatbestand auch erkannt: Was aber soll weiter helfen, wenn weder die heroisierende „idealistisdie“ Tragödie, noch auch das romantisierende Schauspiel, weder Ausflüge in Mythos und Antike noch Exkursionen in exotisdie Bereidie des Seelenlebens schmackhaft erscheinen und wenn man sich, da „man“ selbst einigen Gesdimack besitzt, nidit unbedingt festlegen lassen will auf das Rührstück mit Happy-End, auf die Sodawasserkomödie der Bühnenstüdcfabrikanten?

Einige neuere Autoren versuchen nun einen Weg zu gehen, der unbedingt Beachtung verdient und unseres Erachtens diskussionsreif ist, da das Wiener Publikum im Laufe eines Jahres mehrere Exempel dieses neuen Stils vorgeführt bekam. Es begann mit Weigels „Barrabas“ und Thornton Wilders „Die kleine Stadt“ und findet gegenwärtig Fortsetzung in einem Stück von Kurt J. Braun, welches Rudolf Steinbock in einer geglückten Inszenierung im Kleinen Haus des Theaters in der Josefstadt herausbringt: „Die Stadt ist voller Gehe i m n i s s e“. Bei aller Verschiedenheit in letzter Aufassung, Substanz und Gehalt läßt sich doch, wie es scheint, eine wichtige gemeinsame Komponente herausstellen: es geht um einen neuen „Realismus“, um eine neue diditerische Stellungnahme zur „Wirklidikeit“

— zur Wirklidikeit unseres Tages, zum Heute! Versudien wir dies Neue an dem neuen Stück Brauns zu erfassen. Sdiauplatz der Handlung: Gegenwart, eine große Stadt

— vielleicht Wien 1947. Inhalt: alltägliche Ereignisse — ein größerer Wirtschaftsbetrieb steht vor der Sperre, die kleinen und größeren Angestellten — Budihalter, Kassierer, Korrespondentin, Sekretärin und Putzfrau ... suchen bereits eine neue Stellung. Wodien-ende der Großstadt, Sonntag, ein Montagmorgen wieder im Büro. Das Spiel ist zu Ende. Es ist nicht sehr viel „geschehen“? Eben nur das, was eben täglich in einer großen Stadt passiert: ein alter Mann ist gestorben, eine junge Frau hat sich verliebt, einige Menschen sind um einige Erfahrungen reicher geworden, das Leben geht weiter. Die Schreibmaschinen im Büro klappern — in der letzten Szene — am Montag dasselbe Lied wie am Samstag vorher. Die Menschen in diesem Stück tragen — mit Recht keine „persönlichen“ Namen auf dem Bühncnzettel, sie heißen einfach: „Der Chef“, „die Putzfrau“, „der Ingenieur“, „die verzweifelte Korrespondentin“, das Bühnenbild zeigt — ebenfalls mit Recht — mehrfach als Photomontage den Blick auf die grauen Dädier der grauen großen Stadt. Und doch — wer nur ein bißchen Gehör hat, der hört es hier: eine neue Musik, einen neuen Ton, der mitten aufklingt aus den Dingen, aus den scheinbar so alltäglichen Geschehnissen selbst... Es steckt eine schweigsam-verschwiegene, stillzarte verhaltene Liebe zu unserem Leben, zu unserer Welt, zu unserem Heute in diesem neuen „Realismus“, dessen künstlerische Bedeutung darin besteht, daß er es versucht, die Dinge, diese armen, kargen, oft so traurig-trostlosen grauen Dinge unseres Lebens selbst sprechen zu lassen! Eine neue Romantik? Vielleicht: Wenn wir die Entdeckung des Eigenwertes, das heißt der auch künstlerisch-dichterischen Eigenwertigkeit unseres Lebens hier und heute als „Romantik“ bezeichnen dürfen. Gewiß jedoch ist es kein Romantizismus, keine Flucht in ein idealisches und ideologisches Gebilde wolkenhaftcr Art. Ein Jasagen zu unserem Leben, keine billig-falsdie „Verklärung“, sondern ein Aufsichnehmen seiner Last, seiner Beschwernis, ein Ringen um die gerade ihm eigentümliche Schönheit, um den feinen Glanz, der um dies Heute Erlebte und Erlitten* gewoben ist: Was dürfen wir mehr verlangen vom Diditer unserer Zeitlichkeit, unserer „Gegenwart“?

In diesem neuen „Realismus“ wird, wie wir glauben, wirklich ein neuer Weg begangen: es ist die Straße unseres Lebens — sie wird nur von dem überwunden, der bereit ist, ihre Last zu tragen: „Lastenstraße“, Anton Wildgans hat sie bereits vor einem Vierteljahrhundert besungen. Danken wir allen Dichtern, allen Künstlern, welche sich offen zum Mittragen dieser Last bekennen — wird sie nicht in dieser Kameradschaft leichter tragbar, weil sie dergestalt neu einsichtig, durdisichtig wird?

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