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Um Leib und Leben...

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Die Geschichte Europas kennt kaum eine Massenflucht solchen Ausmaßes wie jene, von der die Welt zur Zeit nur sehr gedämpft und fast achselzuckend Notiz nimmt, jene nämlich aus der Mitte Deutschlands, der DDR, durch das Tor der Freiheit, Westberlin, in ein immer ungewisser werdendes „Freiheitsland“. (Mit diesem romantischen Namen ist unser derzeitiges mit ganz anderen Sorgen und Streitereien beschäftigtes Rest-Europa gemeint.) Die großen Ausweisungen von 1945 können damit nicht verglichen werden. Es handelte sich dort ja um eine kollektive Austreibung, wie wir sie seit den Tagen Kemal Atatürks in geradezu quadratisch wachsender Reziprozität in immer kürzeren Abständen erlebt haben. Bei jenen 25.000 aber, die allein im eiskalten Monat Jänner in den überfüllten Lagern, Schuppen und Baracken von Berlin eintrafen, handelt es sich bei der überwiegenden Mehrzahl um Fälle individueller Entscheidung, um einen freiwilligen, im Wesentlichen überlegten und unter immer größerer Bedrohung und Behinderung durchgeführten Akt, Selbst eine fünf-, ja im ganzen sechsstellige Multiplikation kann die Würde und die dramatische Spannung dieser wahrhaft existentiellen Grundentscheidung nicht verkleinern. Mag an äußeren Momenten hinzukommen was immer, Panik und Massenpsychose, in diesem oder jenem Fall vielleicht echter Bankrotteur-Nihilismus, bei den bedauernswerten Alten kreatürliche Lebensangst; diese wenigstens in einem, eben dem ausschlaggebenden Moment, erscheinende Situation der rein persönlichen, verantwortlichen Entscheidung — vor allem, wenn es sich um Familienväter oder anderweitig für Schutzbefohlene Verantwortliche handelt — ist unleugbar. Die verantwortlichen Stellen der deutschen Bundesrepublik, vor Jahresfrist schon Minister Kaiser und jüngst erst Bundeskanzler Dr. Adenauer, haben in diese Entscheidungssituation der Menschen des deutschen Ostens, der deutschen Mitte, hinein ein eindringliches Wort der weisen und wohlerzogenen Politik gesprochen. Es ist an sich natürlich richtig: „Jeder, der heute bleibt, nützt der Sache der Freiheit mehr, als der, der Hals über Kopf flüchtet. Er verteidigt mit seiner bloßen Existenz den deutschen Boden, der sonst von nachrückenden Asiaten in Besitz genommen wird.“

Die in Permanenz arbeitenden Flüchtlingsausschüsse hatten mit der berühmten Formel „Bedrohung an Leib und Leben“ eine Art Faustregel in der Hand, nach der, abgesehen von Agenten und Spitzeln der Sowjets, die sich aber kaum in einer Flüchtlingsstelle melden werden, sondern mit gefälschten Papieren direkt nach Westdeutschland reisen, Spreu von Weizen zu trennen war. Glücksritter und Tagediebe, die es im Osten wie im Westen gibt, Arbeitsscheue, die ihr Glück im „Goldenen Westen“ machen wollen, und Jobber, die einen besseren Weideplatz suchen, konnten von denen ganz abgesondert werden, die wirklich um des Gewissens willen Arbeitsplatz und - Existenzsicherung, Haus und Hof, sehr oft sogar die nächste Familie im Stich ließen und zu Tausenden eben in dieser Stunde, da'diese Zeilen geschrieben und gelesen werden, verlassen. Man erweiterte in Westberlin und auch in den durch die Stacheldrahtgrenze kaum noch sehr frequentierten Flüchtlingsgroßlagern in Gießen und Uelzen den Begriff von der „Bedrohung an Leib und Leben“ durch den Zusatz „oder aus anderen triftigen Gründen“. Natürlich waren hier einer Kautschuk-Auslegung Tür und Tor geöffnet.

Es bleibt also bei dieser Frage ein ungelöster und entscheidender Rest, den weder die staatsmännische Klugheit Adenauers, noch die solidarische Disziplin Kaisers, noch die wohlerwogenen juristischen Maximen der Flüchtlingsausschüsse lösen können. Und nicht nur die rein bevölkerungs- und arbeitsmarktmäßige Seite dieses brennenden Problems, die ja früher oder später auch jenseits der Grenzen der Bundesrepublik nicht nur zu Interesse, sondern zu konkreten und koordinierten europäischen Maßnahmen zwingen wird, macht diesen keinesfalls abgeschlossenen, sondern von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde, ja von Minute zu Minute (täglich flüchten über tausend Menschen, also fast jede Minute einer...) sich steigernden Zustand zur „nostra res“. Nein, es ist eben jene politisch, statistisch, verwaltungsmäßig, wirtschaftlich, transportmäßig nicht mehr definier- oder auch nur umschreibbare aufscheinende Realität des Gewissens, die aus diesen Flüchtlingen einen hunderttausendfach verstärkten Zeugnisfall macht, der ihr Schicksal über die furchtbare Katastrophe der Deutschenaustreibungen von 1945 noch hinaushebt in die Höhen echter, entscheidungsfreier Tragik. Wir haben zu Anfang gesagt, daß «liese Situation in der Mehrzahl der Fälle weitgehend überlagert ist durch äußere Gegebenheiten, uns geht es auch nicht um die Aufweisung der hier mitspielenden wirtschaftlichen und soziologischen Umschichtungen, die eine m i t bestimmende Rolle spielen, uns geht es um jenes Grundproblem des Christen, das heute vor einer nicht unbeträchtlichen Zahl deutscher Menschen in einer Nacktheit und Unmittelbarkeit steht, die uns an die Urzeiten der Kirche ei innert.

Für den Christen aber reicht die »Leib-und Lebenförmel“ nicht aus. Für ihn sieht es so aus: Im Gegensatz zu allen bisherigen Gegenmächten, die sich damit begnügten, ein Stillschweigen, ein Zurückziehen, schlimmstenfalls ein rein formales „Abschwören“ zu verlangen, steht der Christ im Osten vor dem unerbittlichen Zwang, ein bewußtes, laut verkündetes Ja zu allen Konsequenzen einer programmatisch unaufschiebbar anti-theisti-schen Lehre und Praxis zu sprechen. Wir wissen, daß sich selbst dem rein formalen „Weihrauchstreuen“ ' den altrömischen Gottheiten gegenüber nach heftiger Auseinandersetzung in der jungen Kirche schließlich die mildere Richtung durchsetzte, die ein solches rein formales Schwachwerden wohl nicht billigte oder auch nur entschuldigte, in der Situation der letzten Bedrohung aber wenigstens verzeihen und verstehen konnte.

Kier aber hilft auch die liberalste und laxeste Mor.iltheoiogie nicht mehr. Die kurz nach dem Erscheinen des „Kommunismusdekrets“ stillschweigend gehandhabte Moral- und Beichtpraxis, daß die Mitwirkung bei einem ganz oder teilweise schlechten Endzweck dann zu entschuldigen sei, wenn der schlechte Zweck als solcher verneint oder nicht gewollt werde, im Verweigerungsfall aber ein wichtiges Gutes ungetan bliebe (konkreter Fall eines großen Spezialarztes, der in seiner segensreichen Tätigkeit durch die Propaganda des Regimes, ohne es zu wollen oder einzuwilligen, mißbraucht wird) ist durch die neueste Entwicklung fast schon überholr. Die totalitäre Welle hat auch jene Inseln ergriffen, die noch ein eigenständiges, neutrales oder indifferentes Dasein führen konnten.

Die Situation ist kaum noch einer Klarstellung bedürftig: „Der Christ muß ein Ja zum Anti-Theismus in kaum mehr verhüllter Form nicht nur nicken oder flüstern, er muß es laut herausbrüllen, mag er nun Richter, Lehrer, Arzt, Ingenieur, Dramaturg, Zirkusclown (!) oder was immer sein.“ Es gibt hier also nur noch eine Alternative, die dem Menschen, der ja seiner Natur und dem Gesetz Gottes nach nicht zur freiwilligen Sehnsucht nach dem Martertod verpflichtet oder angelegt ist: Entweder die Flucht, gleich, was auch immer kommen möge, oder aber die so völlige Abstinenz der unqualifizierten Handarbeit, das vollkommene Ausscheiden aus jedem Leben in der Gesellschaft, der wir'klich radikalen Auslöschung seiner selbst. Wir wissen, daß es Tausende, vielleicht Zehntausende gibt, die heute bereits so leben. Hier sind die Heerscharen eines echten Laienordens von morgen, ohne Kutte, Regel und Profeß. Wenn irgendwo, dann sind unter ihnen jene 144.000 der Apokalypse zu finden. Für die i»roße Mehrheit aber bleibt die unausweichliche Gewissensentscheidung der Flucht.

Die Flucht ist aber mehr als ein Abwägen materieller Erfolgschancen „drüben im gelobten Land“. (Man kann nur mit einer gewissen Bitterkeit sagen, daß die Menschen sich im Osten zur Gänze bezüglich der Gastlichkeit, Solidarität und Aufnahmebereitschaft der westlichen Welt heilsamen Illusionen hingeben und gewisse erst später erfahrbare Realitäten der Zustände im „Lande der Freiheit“, wenn auch berichtet, kaum geglaubt würden und werden.) Nein, die entscheidende Gewissensproblematik liegt in der Frage der Flucht, des „Im-Stich-Lassens“ selber. Und diese Last nimmt den Tausenden und Zehntausenden keiner ab. Hier schweigt die politische Zweckmäßigkeit und staatsmännische Weisheit. Hier haben auch wir, die Zaungäste und Zuschauer, zu schweigen. Hier wird in den Herzen der kleinen Leute, die einen Mesnerberuf, einen privaten Laienkatechetenkurs, einen Katakombenvortrag im Bildungswerk, eine Schwesternstellung in einer atheistischen Kindergartenluft, eine Tat der Entscheidung vollzogen, von der Kierkegaard mit Recht sagt, daß ihr gegenüber die Engel und Erzengel herbeieilend den Atem anhalten.

Und das, dieweil Sie, verehrter Leser, in Ruho und Besinnlichkeit dieses Zeitungsblatt in der Hand halten. Jetzt, in dieser Minute. Und in der nächsten Minute wieder!

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