Unbeachtet beachtenswert

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Renate Welsh pflegt "Die schöne Aussicht" mit einer unspektakulären Heldin.

In Rosas Leben ist nichts schön. Sie ist ein Kind, das ungelegen und zu spät kommt, die Schwestern sind schon erwachsen, die Mutter ist überfordert mit dem Vorstadtwirtshaus, der Vater ein stumpfer Mensch und Trinker. Ein allein gelassenes Mädchen, das früh lernen muss, Verluste wegzustecken, Schmerz auszuhalten.

"Er (der Vater) sei nur froh, daß er der Mutter die blöde Idee ausgeredet habe, das Gasthaus ,Zur schönen Aussicht' zu nennen, ganz abgesehen davon, daß die einzige Aussicht, die man vom Dachfenster aus sehen könne, die auf den Friedhof sei." Aussichten scheint es also nur schlechte für Rosa zu geben. Manchmal tun sich Fenster auf, geben Blicke frei auf ein friedlicheres Leben, auf Liebe, Geborgenheit, kleines Glück. Manchmal darf sich Rosa hineinlehnen in diese Aussicht, aber in Summe gesehen wird sie immer aus der Distanz solcher lichtvollen Momente gewahr.

Leises Drama

Renate Welsh geht diese Biografie chronologisch an, schildert ohne aufsehenerregende Tricks sehr ruhig ein erschütternd leises Drama. Ein unmodernes Buch, mögen manche vielleicht vor der Lektüre meinen. Denn Erstaunliches passiert. Renate Welsh hat hier ihre Stärke, sich als Erzählerin sehr zurückzunehmen, dazu verwendet, eine Art von "verdichteter" Distanz aufzubauen, die den Lesenden schnell persönlich betroffen macht.

Rosas karge Existenz, das schäbige Milieu wird riechbar, hörbar, sichtbar. Die Liebe, die sie in unterschiedlicher Form häppchenweise erfährt - immer brutal und von außen beendet -, lässt sie die Grenzen ihrer gewalttätigen Erziehung, die enge Moral ihrer kleinbürgerlichen Klasse überwinden. Die Feigheit ihrer Eltern wird ein Leben lang schmerzen, aber Rosa schafft es, sie emanzipiert sich tatsächlich. "Aber eigentlich, stellte Rosa fest, machte das Denken Spaß."

Rosa ist ein völlig unpolitischer Mensch. Das wirkt sich in den dreißiger und vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts fatal aus. Denn sie versteht die Zeichen der Zeit nicht, sie interpretiert, wenn überhaupt, in naiver Unkenntnis falsch. Sie empfindet - der Vater ist ein prägender Auslöser -, nur Widerwillen und verschließt ihre Augen vor Tatsachen. Der Mann, den sie zu lieben lernt und der sich im Untergrund als Helfender exponiert, fördert dieses Nichtwissenwollen. Rosa wird keinen Stolz empfinden können, sondern nur die bodenlose Trauer der Verlassenen.

Eindringliche Warnung

Der Roman zeigt auf, wie sehr Politik alles in unserem Leben bestimmt. Welsh warnt eindringlich, aber ohne erhobenen Zeigefinger, vor Desinteresse, partieller Blindheit, Abkapselung.

Was das Buch aus der Menge von Trümmerfrauenbiografien jedoch wirklich hervorhebt, ist nicht der immer wieder durchbrechende Humor, mit dem Welsh das Grau aufhellt, sondern die Wendung, die Rosas Leben im Alter nimmt, und die Änderung der Erzählstimme ...

Eine Familie wird vorgestellt, eine junge bettlägrige Mutter dreier Buben, auf Hilfe angewiesen. Rosa springt ein als Haushälterin, erfindet sich eine private, nicht wirkliche Welt. Noch folgt die Erzählstimme Rosa konsequent - bis hin zum Grabkauf an einer bevorzugten Hanglage "mit schöner Aussicht". Rosa hat das Schweigen über sich nicht aufgegeben, aber das Lachen über sich selbst gelernt. Der Leser ahnt, was er erst im Epilog erfährt ...

Die schöne Aussicht

Roman von Renate Welsh

Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2005, 237 Seiten, kart., e 14,40

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