Unbegreifliche Rätsel

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Sergio Pitols surrealistischer Roman "Die göttliche Schnepfe": grotesk komisch, blasphemisch, aufwühlend.

Der 73-jährige mexikanische Autor Sergio Pitol gilt als herausragender Erzähl-Verführer in der lateinamerikanischen Literatur, hat er doch den literarischen Ritterschlag der spanisch sprechenden Literatur erhalten, den Premio Cervantes. Vor einem Vierteljahrhundert schrieb er den Roman Die göttliche Schnepfe, der erst jetzt auf Deutsch erschienen ist.

Ein wenig kokett mutet der Anfang an, in dem sich der Verfasser, damals 47 Jahre alt, in einen alternden Schriftsteller hineindenkt, der mit sich ringt, ob er noch einmal einen Roman schreiben soll. Er schreibt ihn: Das ist die erste Erzählebene.

Die zweite Ebene besteht aus einem Ich-Erzähler, der in Mexiko eine Familie während eines Gewitternachmittags mit einem langen Erinnerungsmonolog zunächst langweilt, dann aber in seinen Bann zieht.

Die dritte Erzählebene handelt von einem Geschwisterpaar, das den Ich-Erzähler vor vielen Jahren zu einer Reise nach Istanbul überredete und von den traumatischen Erlebnissen des Kürzest-Aufenthalts in der Stadt am Bosporus. Dort landet der Ich-Erzähler als junger Mann und lernt eine Ethnologin kennen, die - wiederum vor vielen Jahren - mexikanische Bräuche studierte und eine angesehene Gogol-Forscherin ist. Verwirrend? So empfinden es auch die Zuhörer, denen der Ich-Erzähler mit dem absurden Namen Dante C. (steht für Casparus) de la Estrella eine Wahnsinnsgeschichte auftischt. Die Zuhörer sind so verwirrt wie der Leser: "Da glaubt man, alles mitbekommen zu haben, und irgendwann merkt man, dass man rein gar nichts von Ihrer Geschichte verstanden hat."

Spannung bis zum Ende

Raffiniert baut Pitol durch seinen immer wieder abschweifenden Bericht der 48 Stunden in Istanbul eine Spannung auf, die sich erst auf den letzten Seiten des Romans entlädt. Denn erst dort begreift der Leser, wie ein einzelnes Ereignis einen Menschen zutiefst kränken, und demütigen kann, sodass er als ein Geschädigter voller Ressentiments zurückbleibt. Oder ist alles ganz anders?

Schwankende Realität

Der Boden schwankt, die Realität wirkt wie die schiefen Häuser Chagalls. Der Ich-Erzähler, damals ein junger Student, entflammt zuerst für die viel ältere Ethnologin, ist berauscht von deren überragenden Geistesfähigkeiten, degradiert sie aber in seiner rückblickenden Erzählung zur Schlampe. Er glaubt, ihr ein Geheimnis entrissen zu haben: Die Ethnologin verrät ihm, dass sie in Mexiko Zeugin einer Exkrementen-Orgie wurde, die zu Ehren des (nicht nur in Mexiko, sondern auch in Prag und im salzburgischen Filzmoos verehrten) Christus-Kindes veranstaltet wurde.

Hat hier der Autor der katholischen Kirche eins auswischen wollen? Und wie ist das grauenhafte Ende zu verstehen, nachdem Dante C. de la Estrella voller Ekel die Wohnung der Ethnologin in Istanbul verließ von ihrem Balkon Nachttöpfe voller Exkremente auf ihn niederprasselten?

So wie der Titel Die göttliche Schnepfe, eine Bezeichnung, die sich die Ethnologin selbst gibt, ungeklärt bleibt, bleibt in diesem surrealistischen Roman vieles im Dunkel: "Nichts als unbegreifliche Rätsel, sobald man versucht, die Signale des eigenen Herzens zu deuten."

Mehr Fragen offen

Die Erinnerung ist ein schwankender Boden. Wer weiß von sich, wann die wirklichen Wendepunkte in eigenen Leben waren? Wann setzt in einem Menschen Ekel ein, wann werden Zumutungen zu groß? Wie soll der Mensch das in Worte fassen? Wem ist zu trauen, wenn nicht dem eigenen Gedächtnis?

Ein seltsamer Roman, bleiben doch an seinem Ende mehr Fragen offen als an seinem Anfang. Keine alltägliche Lektüre, bisweilen grotesk komisch, blasphemisch, doch allemal aufwühlend.

Die göttliche Schnepfe

Roman von Sergio Pitol. Aus dem mexikanischen Spanisch von Angelica Ammar. Wagenbach Verlag, Berlin, 2006

204 Seiten, geb., € 20,10

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