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Unbekannter Rilke

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Rainer Maria Rilke hat durch seine Übersetzungen aus fremden Literaturen viele ausländische Dichter in Deutschland und Österreich bekanntgemacht, doch früh schon wurde ihm seine liebevolle Mühe im Ausland vergolten und Werk und Forschung ließ man bei vielen Kulturnationen eine besondere Pflege angedeihen, die auch während des Krieges nicht unterbrochen wurde. Das erlesene künstlerische Erlebnis, die in Amerika vor einiger Zeit in einer wundervollen Ausgabe erschienene, bisher unveröffentlichte Rilke-Novelle „Ewald T r a g y“ kennenzulernen, danken wir Ewald Baiser, der diese biographische Erzählung in der österreichischen Kultur-vereinigung vortrug. Rilke hat die frühen Dichtungen der Prager Zeit, von denen er später bekannte, daß er „sie lieber in seinen Schultischladen zurückbehalten hätte“, in die Sammlung seiner Werke nicht aufgenommen. Um so aufschlußreidier ist die Begegnung mit dem bisher unbekannten Werk, das zu jenen verschollenen ersten dichterischen Versuchen zählt und nach einer besonders reizvollen Seite hin noch das recht unklare Bild der Frühzeit des Dichters um wesentliche Züge bereichert. Die Erzählung schildert den jungen Dichter in zwei entscheidungsvollen Stadien seines frühen Lebensweges. Die Rückkehr nach Prag im Jahre 1892 schien nach den Drangsalen und trüben Jahren der Militärschule in St. Pölten zuerst wie eine aussichtsvolle Befreiung, doch verdüstert sich auch hier in den folgenden Jahrer das Gestirn über Rilke; und in steigendem Maße wird das Mißbehagen des Vaters über den Sohn, „der Gedichte macht“, geweckt, und Rilke kommt immer mehr in Widerspruch mit den beruflichen Absichten seines Vaters In der Schilderung des Spazierganges über den Prager Graben an einem Spätsommersonntag 1896, mit der die Novelle beginnt, kündigt sich schon in dieser frühen Produktion jene für Rilke so bezeichnende Gabe der dichterischen Gestaltung des Unaussprechlichen und der verborgensten seelischen Bezüge an; dahinter wird in knapper und meisterhafter Prägnanz jener Konflikt mit dem Vater (dessen Bild er noch in seiner spätesten Zeit in der vierten Duineser Elegie festgehalten) sichtbar, der dann zur Trennung führt. Der Dichter

führt uns mitten hinein in den Kreis seiner Familie, und diese ihm widerstrebende Umgebung bildet den Rahmen des in der Erzählung geschilderten „letzten Sonntags“; schon zwei Tage später treibt ihn seine unstillbare Sehnsucht in die Welt. Die geheimen Kräfte, die er immer stärker in einer Seele fühlt, gipfeln in dem Bewußtsein, daß er berufen ist, Großes zu leisten.

Den biographischen Hintergrund des zweiten Teiles der Novelle bilden die Herbst- und Wintertagc desselben Jahres; wir begegnen dem Dichter auf seinen ersten Gängen durch München, die sich mit manchem Satz den späteren Pariser „Malte“-Erlebnissen wesensverwandt zeigen. Hinter Ewald Tragy verschanzt Rilke sein eigenes hilfloses Herz, seine Lebensnot. In zwei für ihn bedeutsamen Begegnungen vollzieht sich sein Eintritt in die „große Welt“; es sind zwei Diditer, deren reale Gestalten die ihnen umgestülpten Pseudonyme kaum verhüllen können: Wilhelm von Scholz bringt den ersehnten Ansdiluß an litera-

rische Kreise, die aber — wie Scholz selbst — mit ihrer allzu lauten Regsamkeit und überheblichen Geste Rilke mehr abstoßen und ihm sein Ausgeschlossensein noch schmerzlicher fühlen lassen. Jakob Wassermann, dem er übrigens die so fruditbare Berührung mit dem Werke J. P. Jacobsens verdankt, befreit ihn aus dem lyrisdien Ungefähr dieser Epoche, und in der Genesung nach schwerer Krankheit, mit der die Erzählung ausklingt, scheint jene endgültige Überwindung der „zwischen Tag und Traum“ beheimateten Jugendjahre symbolisiert, hinter der er nun alle Brücken abbricht. Breit öffnet sich der Weg dem großen europäischen Wanderer.

Da Rilke später kaum Novellistisches mehr geschrieben und nur noch im „Malte“ Biographisches gestaltete, wird in • dem Gewinn des „Ewald Tragy“ der Verlust des vom Diditer lange geplanten, aber unausgeführt gebliebenen Militärromans doppelt schmerzlich empfunden.

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