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Und wieder schnattern die Gänse...

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Die Geschichte ist bekannt. Sie spielt in Roms ältester Vergangenheit. Wieder einmal waren die Gallier in Latium eingefallen und bedrohten die aufstrebende Stadt. Mehr noch: die Mauern waren bereits überstiegen, die Ansied-lungen in der Tiberniederung gebrandschatzt. Nur auf dem Kapitol leistete man noch verzweifelten Widerstand. Doch die Helden waren müde. Die Wachen nickten ein und beinahe hätte die Geschichte der letzten zwei Jahrtausende einen anderen Verlauf genommen, wären nicht die heiligen Gänse der Juno gewesen, deren Geschnatter die Verteidiger in letzter Minute auf die feindlichen Stoßtrupps aufmerksam machte, die im Dunkel der Nacht den Möns Capitolinus erklommen hatten ...

In diesen Tagen geht es wieder um das Kapitol, heute der Sitz des Bürgermeisters von Rom und der Stadtverwaltung. Und abermals schnattern die Gänse ... Ihre Rolle haben die Propagandisten der demokratischen Parteien und .der rührigen katholischen Comitati Civici übernommen. Die Aufgabe aber ist dieselbe: eine etwas schläfrige und von den Wahlgängen des letzten Jahrzehnts vielleicht in falsche Sicherheit eingelullte Bürgerschaft soll aufgerüttelt werden. Es gilt, den Bürgern Roms in Erinnerung zu rufen, daß nach wie vor der Feind innerhalb der Mauern steht und daß auch die italienischen Kommunalwahlen vom 27. Mai mit über die Zukunft jedes einzelnen entscheiden. Im Lande mit der noch immer stärksten kommunistischen Partei Europas — wenn man von Rußland absieht — hat jeder Urnengang den Charakter eines Duells zwischen Freiheit und Unfreiheit. (Das ist hier keine Phrase, wie anderswo in politisch glücklicheren Ländern, wo sich einwandfrei demokratische Parteien, die noch dazu seit über einem Jahrzehnt zusammenarbeiten, jedesmal, wenn Wahlen vor der Türe stehen, darinnen gefallen, den anderen als unsicheren Kantonisten hinzustellen.)

Darum schnattern also die Nachfahren der kapitolinischen Gänse, und der Lärm, den sie machen, ist nicht zu überhören. Nacht für Nacht ziehen wieder die Plakatierkolonnen aus, und wer italienische Wahlpropaganda kennt, ahnt das Ergebnis. Ob es ein altehrwürdiger Palazzo in der Altstadt ist oder die graue Häuserzeile der Via Tiburtina — die Favoritenstraße Roms —, ist einerlei: bis in die Höhe des ersten Stockwerkes haben am kommenden Morgen Roms Plakatkrieger Spuren ihrer Arbeit zurückgelassen. Und sie schwärmen Nacht für Nacht aus. Plakate, die älter als 24 Stunden sind, interessieren die Bewohner unseres südlichen Nachbarstaates nicht mehr.

Da klebt er also wieder, der Libertas-Schild der Democristiani neben Hammer und Sichel. Nennis Leute unterscheiden sich schon optisch wenig von ihren kommunistischen Weggefährten. Auch sie führen Hammer und Sichel im Wappen; allein ergänzt durch ein aufgeschlagenes Buch, auf diese Weise die Einheit von Ar--beitern, Bauern und „fortschrittlichen Intellektuellen“ unterstreichend. Die aufgehende Sonne wirbt wieder für Saragat und seine kleine demokratische sozialistische Partei. Im Bruderkrieg, auch auf der Plakatwand, liegen die seit dem letzten Urnengang gespaltenen Monarchisten. „Votate Stella e Corona!“ („Wählt Stern und Krone!“) mahnen die ziemlich weit nach rechts abgeglittenen und durch ein Schutz- und Trutzbündnis mit den Neofaschisten verbundenen Nationalmonarchisten. „Votate Leoni!“ („Wählt Löwen!“) fordern dagegen die von dem rührigen Reeder und derzeitigen Bürgermeister von Neapel, Lauro, geführten „Volksmonarchisten“, sie haben sich im politischen Alltag stark den Democristiani genähert, indem sie auf ihr Parteisymbol — zwei Löwen, die die Savoyerkrone halten — anspielen. So geht es weiter, über die Trikolore der Liberalen, der rotweißgrünen Flamme des MSI bis zu dem grünen Efeublatt der Republikaner, die, seitdem mit der Ausrufung der Republik eigentlich ihr Ziel erreicht war, als Zwergpartei unter der Parole „Pro libertä e giustizia“ („Für Freiheit und Gerechtigkeit“) weiter ihr Leben fristen. Ein zweites neues Symbol ist seit den letzten Wahlen hinzugekommen. Nicht nur die Monarchisten haben sich gespalten, auch innerhalb der Liberalen hat eine Scheidung der Geister eingesetzt. Eine jungliberale Gruppe unter Führung des Conte Carandini hat die klassische Partei des Risorgimento verlassen. Mendes-France hat, wie schon das Zeichen dieser als „Radikale“ sich vorstellenden Gruppe verrät — ein Frauenkopf mit Jakobinermütze —, auf Carandini und seine Freunde seinen Eindruck nicht verfehlt. Was man hier will, ist eine „linke, aber nicht marxistische Politik“. Die Hoffnung geht dahin, Nenni vor allem unter den Intellektuellen Wähler abspenstig zu machen. Als typische Intellektuellenpartei darf man aber die Erfolgschancen dieser neuen keineswegs uninteressanten Gruppe nicht zu hoch einschätzen. Daran ändert auch nichts, daß sie von einer der besten Wochenschriften Italiens „II mondo“ („Die Welt“) und von der erst unlängst gegründeten neuen Tageszeitung „II giorno“ („Der Tag“), die in einem massiven Konkurrenzkampf gegen die traditionelle liberale Großpresse binnen weniger Wochen eine Auflage von 180.000 Exemplaren erreichen konnte, eindeutig unterstützt wird.

Die Entscheidung fällt aber auch diesmal eindeutig zwischen der christlich-demokratischen Mitte auf der einen und Togliatti und Nenni auf der anderen Seite. Die Democristiani kennen die verheerenden psychologischen Folgen, die im In- und noch mehr im Ausland ein Erfolg der extremen Linken gerade in Rom auslösen würde, genau. Elastischer in der Personalpolitik, als christlich-demokratische Parteien in anderen Ländern, präsentieren sie statt des im politischen Tageskampf abgenützten bisherigen Bürgermeisters Rebbecchini den Senator Tupini — den sogenannten „älteren Tupini“, auch sein Sohn steht nämlich bereits aktiv in vorderster politischer Front — als künftigen Herrn für das Kapitol. Ihre Propaganda und die der Comitati Civici nützt die Verwirrung, die der 20. Parteitag in die Reihen der italienischen KP getragen hat, natürlich weidlich aus. Deshalb erscheint Stalin persönlich in Lebensgröße nicht vielleicht auf kommunistischen, nein, diesmal auf christlich-demokratischen Wahlplakaten und beschwört die Wähler: „Io sono un bandito („Ich bin ein Verbrecher, aber die anderen waren mit mir — wählt sie nicht!“. Und eine andere eindrucksvolle Affiche mahnt mit den Bildern der Opfer des Stalinismus unter den europäischen Kommunisten: „Non votate Par-tito Condannati innocenti!“ („Wählt nicht die Partei der unschuldig Verurteilten!“) PCI — das ist nämlich die allgemein geläufige Abkürzung für Partito Communista Italiano. Von kommunistischer Seite wiederum wird die vor kurzem erfolgte Vereinigung der Industrie, des Kommerzes und der Großgrundbesitzer zu einer Allianz weidlich ausgenützt und ein kommunistischer Erfolg als einziger Schutz vor allen Anschlägen auf die breiten Schichten des arbeitenden Volkes hingestellt.

Hart wird der Kampf um Rom, der Kampf um das Kapitol am 27. Mai zweifelsohne sein.

Aber nicht nur Rom hat sein Kapitol. Auch alle anderen Gemeinden, die großen Städte genau so wie die kleinen Landflecken unten im Mezzogiorno oder in den Felsen des Apennins, kämpfen den gleichen Kampf um ihre Gemeindevertretung, um ihren Sindaco. Linter den großen Städten verdient vor allem der Ausgang des Electorats in Florenz, Bologna und Neapel besondere Aufmerksamkeit. In Florenz hat La P i r a die Feuerprobe für seinen christlichen Sozialismus — und für manch eigenwillige Aktionen, die ihn zu einem „Bürgerschreck“ (Bürger im Sinne von Besitzbürger) gemacht haben, zu bestehen. Es ist ein offenes Geheimnis, daß in gewissen Gesellschaftskreisen, die ansonsten allein beim Hören des Wortes Kommunismus sich bekreuzigen, mitunter elegische Betrachtungen über die „gute, alte Zeit“ angestellt werden, in der vor La Pira ein Kommunist dem Geineinderat der Arnostadt präsidierte.

In Bologna ist dies noch heute der Fall. Bologna, „la grassa“ (Bologna, die Ueppige), wird von dem zweifelsohne tüchtigen kommunistischen Bürgermeister Dozza geleitet. Gegen ihn schicken die Democristiani den radikalen katholischen Sozialreformer D o s e 11 i, der einst an der Wiege der DC Pate stand, aber später in den Hintergrund trat, ins Feld. Das Experiment La Pira soll wiederholt werden.

In Neapel wieder ist die zentrale Figur des Wählkampfes ohne Zweifel Achille L a u r o. Unter der monarchistischen Fahne eroberte sich der steinreiche Reeder bei den letzten Kommunalwahlen den Bürgermeistertitel der vielbesungenen Stadt am Fuße des Vesuvs. Eine burleske Wahlpropaganda, bei der weniger politische Argumente als kostenlos verteilte Spaghetti eine Rolle spielten, half dabei mit. Einmal Bürgermeister, sonnte sich Lauro aber nicht nur an der Sonne der Macht. Neapel verdankt seiner Administration zahlreiche Verschönerungen der im Gegensatz zu den Vorstellungen vieler Touristen gar nicht so strahlenden Stadt. Gerade jetzt in den Wochen vor der Wahl zaubert der Hexenmeister auf dem Bürgermeisterstuhl Grünanlagen auf die staubige Piazza vor dem Castell Nuovo. Lauros politische Agilität aber macht an den Grenzen Neapels nicht halt. Seine „Volksmonarchisten“ — ohne Lauro wäre diese Gruppe bald in alle Winde zerstreut — sind rührige Agitatoren. Wenn ihr Padrone in Rom spricht, dann regnet es am Vormittag aus Flugzeugen Einladungen auf die Ewige Stadt. Und es kann dem Fremden passieren, daß er auf den nächtlich stillen Straßen einer der abgeschiedenen Fischerstädte im Golf von Salerno plötzlich seinen Ohren nicht traut. Wo er die schmeichelnden Klänge des „Santa Lucia“ erwartet, gibt es die Zither Toni Karas' zu hören. Mit solchen „exotischen“ Klängen locken die erfindungsreichen „Volksmonarchisten“, die hier vor allem um die Stimme des „Kleinen Mannes“ werben, die tanzfreudige Jugend in ihr Sektionslokal ...

Nicht immer und überall aber geht es so schwerelos zu. Auf einer Fahrt durch die berühmten römischen Castelli kann der Besucher sich überzeugen, daß diese durch ihre Weine in der ganzen Welt bekannten Orte Hochburgen des Kommunismus sind. Der italienische Freund weiß auch die Erklärung: „Was wollen Sie? Die Familie T.“ — hier nennt er finen in der Geschichte der Stadt Rom nicht unbekannten Namen —, '-„der hier weite Strecken Landes gehören, behängt ihre Töchter und Nichten zu ihrem 18. Geburtstag mit sündteuren Spitzen und kostbarsten Brillafiten. Die Landarbeiter, die nicht selten vier, fünf oder noch mehr Kinder haben, erhalten einen Taglohn von 700 Lire (30 S) ...“

Im Hauptquartier der Democrazia Cristiana auf der Piazzail Gesü in Rom kennt man das Kardinalproblem der italienischen Innenpolitik, das in der unausgeglichenen sozialen Struktur der Apenninenhalbinsel zu suchen ist, sehr wohl. Man kennt es nicht nur, sondern man unternimmt auch ernste Anstrengungen, um einer Lösung — sagen wir — näherzukommen. Das Programm des Regierungschefs S e g n i, die „apertura sociale senza sinistra“ („Die soziale Oeffnung ohne die Linke“), wird Schritt für Schritt weitergeführt. Innerhalb der Partei selbst sind die Spannungen zwischen den beiden Flügeln der „Concentrazione“ und der „Iniziativa demoeratica“ zur Zeit weitgehend abgklungen. Einigkeit im eigenen Haus, eine sterile Rechte, Verwirrung auf der extremen Linken. Jetzt oder nie müßte es eigentlich gelingen, dem Kommunismus feste Grenzen zu setzen, mehr noch: ihn zurückzudämmen. So denkt man auf der Piazza il Gesü.

Die Gänse haben geschrien, die Hüter des

Kapitols schlafen nicht. Der 27. Mai soll sie auf ihrem Posten finden.

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