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Ungarisches Potpourri

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VOR DEM MOSAIK EINER LANDKARTE, das an der Gebäudefront des Zollhauses von Hegyeshalom in den ersten Strahlen der durchbrechenden Morgensonne bunr aufleuchtet, steht ein Mann und starrt nachdenklich die Form des Gebildes an und sagt zu einem neu Hinzutretenden: „Wie ein Pferd schaut es aus, das nach Osten sprengt. Vor der Nase die Sowjetunion, von der Kinnkettengrube an Rumänien, zwischen Vorder- und Hinterhand Jugoslawien.“ Sein Nebenmann stopft ein paar Forintscheine in die Brieftasche, zündet sich genießerisch eine Zigarette an und meint nach einem kurzen Blick auf das Mosaik: „Mein Lieber, wenn Sie soviel Phantasie haben, dann können Sie sich die Karte auch umgedreht vorstellen. Ihr Pferd sprengt dann nicht, es liegt mit gesenktem Kopf auf der Weide und äugt vor sich hin — nach Westen.“ Soviel stimmt jedenfalls: wie Österreich ist auch Ungarn länger als breit — 268 Kilometer liegen zwischen der Nord- und Südgrenze, 528 Kilometer (etwas weniger als von Wien bis Landeck in Tirol) zwischen der West- und Ostgrenze. Der Gemeinsamkeiten gibt es aber noch mehr. Nur eine sei noch hervorgehoben: Budapest liegt 40 Kilometer von der tschechoslowakischen Grenze entfernt, und Wien trennen ebenfalls nur 40 Kilometer von der March. In der Luftlinie aber ist es ziemlich gleich weit von Wien nach Prag und von Wien nach Budapest. Die Brüder einer großen Familie haben sich getrennt und sind sich' doch so nahe.

WÄHREND DER DURCHFAHRT IN MOSON (WIESELBURG) ist gerade ein kleiner Markt im Gange, und ich finde es sonderbar, daß die Frauen in ihren breiten Taschen etwas verstauen, dem sie von Zeit zu Zeit einen raschen Blick zuwerfen. Erst beim Aufenthalt in Raab kommt die Erklärung. Dort kommen ähnlich gekleidete Frauen — entweder mit dunklem Kopftuch oder bloßem Haar — mit gleichen bauchigen Taschen vom Einkauf für den nahenden Sonntag, und das, was mit zuweilen sorglichen Blicken behütet wird, ist ein lebendes Huhn; offenbar der Feiertagsbraten. In Raab pulsiert eben zur Mittagszeit überaus reges Leben in den Straßen — genau ausgedrückt, auf den Straßen, wo man, unbekümmert um Verkehr oder Motorisierung, flaniert, sich Grüße über die ganze Straßenbreite zuwinkt oder einen kleinen Plausch abhält. Im Restaurant Vörös Csillag (Roter Stern) ist jeder Tisch besetzt. Die beim Eingang ausgehängten Speisenkarten unterscheiden sich in ihrer Länge nicht von den Wiener Speisenkarten. Noch ein rascher Blick in die nächsten Schaufenster. Die Preise der Bücher sind auffallend niedrig (in unserem Geld zwischen 15 und 30 S). Auch die Hemden, welche mit 95 bis 220 Forint, und die Selbstbinder, welche mit 50 Forint angeschrieben sind, kann man ungefähr unseren Preisen gleichhalten. Anders ist es mit Pullovern und Damenwesten, sie kosten 400 bis 500 Forint. Und da wir schon bei den Preisen sind: eine Flasche Bier kommt auf ungefähr 4 S, eine Portion Huhn mit Beilage im Hotel Geliert in Budapest auf 30 S, eine Flasche Mineralwasser auf 1.40 S, ein Umsteigefahrschein der Straßenbahn auf 70 Filier zu stehen. Das Grundgehalt eines Volksschullehrers liegt bei 1700 Forint, eine Stenotypistin fängt mit 1200 an, ein Buchhalter verdient etwa 3000, ein Facharbeiter 2000 bis 4000 Forint.

AUCH WENN DER BERÜCHTIGTE DONAUNEBEL, der sich schon beim Abstieg der Straße von Pilisvörösvär nach Öbuda ankündigt, über der ungarischen Hauptstadt liegt, ist die Einfahrt zauberhaft: hinter dunklen, massigen Bauten dämmern rechter Hand Berge, verschwimmen vor uns wie zarte Spinnweben die Bogen von Brücken, eine hinter der anderen — bis lange vor der siebenten schon die Nebelschleier, nur schwach versilbert von der Spätmittagssonne, zusammenschlagen. In dieser Stadt leben 1,807.000 von den 9,977.870 Einwohnern Ungarns — nach der neuesten Zählung. An solch einem vernebelten Tag mutet diese Stadt an wie eine Witwe, die Trauer trägt und den Kopf tief gesenkt hält. An Leid hat sie wahrlich genug erfahren — man braucht nicht bis in graue Zeiten zurückzugehen, nicht einmal bis zur Folgezeit des ersten Weltkrieges

Alles dies wird von dem Inferno 1944/45 übertroffen. In den 14 Wochen bomben- und gra-natendurchpflügter Qual, als 33.000 Häuser mit 80.000 Wohnungen vernichtet oder beschädigt und alle sieben Donaubrücken in die Luft gesprengt wurden, gruben sich — nicht zum aller-letztenmal — Furchen in das Gesicht der Stadt, die man einst eine „Frau mit leuchtenden Brillanten im dunklen Haar“ genannt hat.

AN DER ECKE DER NEPKÖZTÄRSASÄG ÜTJA verlangsamte unser Wagen für einen Augenblick die Fahrt, ehe er in die nächste Straße einbog. In diesem Augenblick verlangsamte auch ein Mann auf dem Gehsteig seinen Schritt und sah erst auf die Nummerntafel des Wagens und dann geradewegs in mein Gesicht. Mir war, als schaue er mir durch und durch. Sein Blick kehrte wie aus einer unsagbaren Ferne zurück, und ehe noch der Wagen rascher anfuhr, hob er grüßend die Hand. Auf und nieder ging sie, während das Gesicht ernst und unbeweglich blieb. Da erinnerte ich mich eines anderen Mannes, der tags zuvor, als ich in Raab ausgestiegen war, auf mich zukam und nur die eine Frage stellte: „Ihr kommt aus Wien?“ Und auf das Ja hatte er wortlos genickt und war weitergegangen.

VORSTELLUNG IN DER BUDAPESTER OPER. Das Haus ähnelt, von außen gesehen, etwas der Wiener Staatsoper, und auch das Treppenhaus mit der Hauptstiege beschwört Erinnerungen an das Haus am Ring. Als erstes fällt auf, daß in den Kleiderablagen und als Platzanweiser Frauen tätig sind, bekleidet mit schwarzen, braunen oder blauen Arbeitsmänteln, die weiße Kragen haben. Die Besucher kaufen bei den Platzanweiserinnen das Programm — es kostet in unserem Geld etwa einen Schilling siebzig —, welches nicht nur die Vorstellungen des Opernhauses verzeichnet, sondern alle Theaterabende der laufenden Woche, alle Bühnen, alle Besetzungen mit kurzgefaßten Inhaltsangaben und biographischen Daten der Autoren. Es gibt Abonnements für bestimmte Tage, also auch ein Samstag- oder Sonntagabonnement. Der Kassenpreis für eine Karte in der zehnten Reihe Parkett beträgt umgerechnet rund fünfunddreißig Schilling. Die Aufmerksamkeit bei den musikalisch gewiß nicht leichten Werken Bartoks (man gab „Herzog Blaubarts Burg“, eine einaktige Oper, und die Ballette „Der holzgeschnitzte Prinz“ und „Der wunderbare Mandarin“) war ungewöhnlich intensiv, und in den Pausen wurde auf den Gängen eifrig über Werke und Wiedergabe diskutiert. Wie man sagte, war die Hälfte der Besucher Arbeiter und Arbeiterinnen.

GESPRÄCHE IM HOTEL auf der Margaretheninsel mit Menschen, die im Kulturleben tätig sind, ergaben in vieler Hinsicht interessante Aufschlüsse. Der Generaldirektor der Musikhochschule, Ferencz Szabo, Chef eines traditionsreichen Hauses — es wurde 1875 mit Franz Liszt und Franz Erkel an der Spitze eröffnet —, berichtete, daß an der Anstalt 160 Professoren tätig sind. Je eine Hälfte der Studierenden widmet sich dem Klavier oder einem Streichinstru-rrient. In einem Jahr werden als Absolventen des Klavierfaches acht und von den Streichern zwölf als reif entlassen. Es waltet also ein strenges Ausleseprinzip. Da ist es kein Wunder, daß ungarische Künstler in Ausland|xigagements so gefragt sind, und daß es Substitutenprobleme in den Orchestern in keinem Instrumentenfach gibt. Die Musikhochschule verfügt übrigens über ein eigenes Studentenheim mit 80 Plätzen. Für jedes Konzert und jede Opernvorstellung bleiben den Studenten 150 Plätze reserviert, natürlich kostenlos. Die Wiener wird es interessieren, daß die Hochschule einen der in Brüssel gezeigten Weltausstellungsflügel von Bösendorfer gekauft hat. Der Präsident des Instituts für kulturelle Beziehungen, Läszlö Gyäros, vom Fach Journalist, erzählte, daß eine Reihe bekannter Wiener Künstler in Budapest gastierte oder gastieren werde, so beispielsweise Paul Badura-Skoda und Ricardo Odnoposoff. Esther Rethy sang kürzlich in der Oper. Die in der Budapester Universität bestehende Bühne vertieft das Gelernte mit künstlerischen Erlebnissen. In einem Jahre sind dort mehr als 300 Vorstellungen mit 66.000 Besuchern zu verzeichnen gewesen. Die Bibliothek der Akademie der Wissenschaften hat die Korrespondenz des Historikers David Angyal erworben, dessen Forschungsgebiet die Zeit zwischen dem österreichisch-ungarischen Ausgleich und dem zweiten Weltkrieg war. Dieses Faszikel enthält eine sehr interessante Dokumentensammlung aus der Zeit Kaiser Franz Josephs.

NACH EINEM BESUCH DES NATIONALMUSEUMS mit seinen herrlichen Werken von Munkäcsy, von Janos Thorma (vor allem „Tal-pra Magyar“ — „Auf Ungar!“ nach Petofis Hymne, der ersten nach Verkündigung der Pressefreiheit am 15. März 1848 in Druck erschienenen Schrift), mit den Gemälden von Szekely und Madaräsz, fahre ich zur Burg und auf den Gellertberg. Die Herstellung der schwer beschädigten Burg wird noch an die fünf Jahre dauern. Hervorzuheben ist, daß bei der Restauration der beschädigten Gebäude — zunächst bei den historischen — wie überall in der Stadt stilgerecht vorgegangen wird (bis zu den alten Straßenlampen!). Der Abschied von der Höhe mit dem Blick auf die Perlenketten der Lichter, die sich abends im Strom spiegeln, fällt nicht leicht. Das weite, von Ost wie ein Meer heranwogende Dunkel macht gedankenschwer.

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