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György Dalos komprimiert die tausendjährige Historie seines Landes in einen brillanten Essay.

Wenn es darum geht, dem deutschsprachigen Publikum Ungarn zu erklären, ist der Schriftsteller und Intellektuelle György Dalos seit langem unverzichtbar. Er hat das kommunistische Ungarn als KP-Mitlied und als eines der letzten Opfer politischer Prozesse erfahren, hat etliche Jahre in Wien gelebt, danach etliche Jahre in Berlin das "Haus Ungarn" geleitet und den Ungarn-Schwerpunkt der Frankfurter Buchmesse 1999 gestaltet. Dalos kennt beide Seiten, er lebt und denkt in europäischen Zusammenhängen, kann Mentalitäten und Denkweisen vermitteln.

Produktiver innerer Zwist

Das zeichnet auch seine Geschichte Ungarns aus. Er komprimiert die tausendjährige Historie seines Landes in einen brillanten Essay, der sich nicht an Dokumenten und Belegen, sondern an den Konsequenzen der Ereignisse für heute orientiert. Ein gestandener Historiker mag damit gewiss unzufrieden sein, und andererseits wird jemand, der von Ungarn und seiner Kultur noch gar nichts weiß, bei etlichen Schriftsteller-Zitaten, aber auch bei zahlreichen Ortsnamen verloren sein (Kurzbiografien im Anhang oder vor allem wenigstens eine Landkarte hätten dem Buch sicher gut getan). Doch wer mit Ungarn und seiner Literatur ein wenig in Berührung gekommen ist, wird das Land mit diesem Buch anders sehen und besser verstehen. Prägend ist, so Dalos im Vorwort, "ein unaufhörliches Ringen um die Selbstbehauptung zwischen Ost und West, Heidentum und Christentum, Verzweiflung und Hoffnung, Provinzialität und Weltoffenheit, Tradition und Moderne - ein für die ungarische Kultur höchst produktiver innerer Zwist".

Von Anfang an, seit der so genannten "Landnahme" (dem Einzug der Magyaren in das Karpatenbecken), sind die Ungarn isoliert, haben sprachlich und ethnisch in ihrer Umgebung keine "Verwandten". Sie werden von "großen" Nationen oft als Spielball instrumentalisiert und im alles entscheidenden Augenblick der großen Gefahr allein gelassen: So war es im Mittelalter beim Ansturm der Mongolen, später bei der Eroberung durch das Osmanische Reich, und so war es wieder beim Volksaufstand 1956. Aus ungarischer Perspektive sieht Europa deutlich anders aus. Auf der anderen Seite waren die Ungarn oft Meister in ungeschickter oder falscher Bündnispolitik - nicht erst im Zweiten Weltkrieg.

Anders stellt sich auch die österreichisch-ungarische Monarchie aus ungarischer Perspektive dar: über weite Strecken als eine brutale Kolonialisierung. Und die Niederschlagung der Revolution von 1848 war ein lange anhaltendes Trauma. Literaten wie Petöfi waren an ihr wesentlich beteiligt, und nicht nur hier liest man interessante Passagen über Literatur und Kultur.

Traumatisch war auch die ungarische Geschichte des 20. Jahrhunderts. Wer über die Lage der ungarischen Minderheiten in Rumänien, Serbien oder der Slowakei spricht, muss erst einmal den Schock verstehen, den der Friedensvertrag von Trianon bedeutete, in dem Ungarn nach dem Ersten Weltkrieg 60 Prozent seines Vorkriegsgebietes und 30 Prozent seiner Bewohner verlor. Hier liegt der Auslöser für viele missglückte politische Manöver - die Chimäre, Trianon rückgängig zu machen, blitzte immer wieder auf.

Leselust und Erkenntnis

Sachlich und detailreich beschreibt Dalos, wie Ungarn kommunistisch wurde, die Licht- und Schattenseiten der wichtigsten Politiker und welche Spielräume sie überhaupt hatten. Es endet in der unmittelbaren Gegenwart: mit den eindrucksvollen Wirtschaftsdaten und der bitteren Tatsache, dass sie sich "nur ungenügend im sozialen Aufstieg von breiteren Schichten widerspiegeln".

Leselust und Erkenntnisgewinn gleichermaßen vermittelt dieses Buch, das einem Österreichs Lieblingsland unter den neuen EU-Mitgliedern aus der Innenperspektive wie aus intimer Kenntnis der Außensicht nahe bringt.

Ungarn in der Nussschale

Geschichte meines Landes

Von György Dalos

C.H. Beck Verlag, München 2004

199 Seiten, geb, e 20,50

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