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„Unsere Augen richten sich nach Wien“

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Unvergleichlich und unvergeßlich ist der Blick vom Leopoldsberg bei Wien hinab auf das Marchfeld, den Wienerwald, die einstige Metropole des vielgestaltigen Reiches, die Kuppeln des unvollendeten österreichischen Eskorials in Klosterneuburg, hinüber nach Preßburg, den Karpaten, der ungarischen Tiefebene. Unvergeßlich: Möge der Blick umfaßt gewesen sein von der zarten Luft eines Frühlingstages oder von der Kühle eines Sommerabends, über den noch der verblichene Sonnenglast lag und der in der leisen Musik des Windes, der den Wienerwald heraufstrich, entschlummerte, oder von der schönen Reife eines herbstlichen Mittags, über dem das Bewußtsein der Vollendung schwebte. Unvergleichlich das Bild, das sich bietet: Die Bühne des Großen Welttheaters. Hier, an diesem Punkt der Welt, brach immer wieder die Macht. Die Macht der Römer, die Macht des Halbmonds, die Macht des Korsen, die Macht der Przemysliden, die Macht der Schweden, der Hussiten. Die Macht des Ostens, die Macht des Westens.

Aber nicht nur die Ohnmacht der Macht, ihr Zuschandenwerden, offenbarte sich auf dieser Bühne des Großen Welttheaters, sondern auch gleichzeitig die Macht des Friedens. Denn die Einigung der heterogensten Ideen, Völker, Stämme und Staaten gelang immer wieder von hier aus. Die große Einigung der Völker des Donauraumes wurde immer wieder. versucht. Von den Przemysliden, den Luxemburgern, den Jagellonen, bis zur „Kleinen Entente", bis zu Hitler. Sie mißlang immer. Sie gelang nur den Habsburgern, und nur, weil sie von Wien aus erfolgte. Wien ist der geographische Mittelpunkt aller dieser Völker längs der Donau. Aber Wien ist noch viel mehr. Diese Stadt hat ein seltsames Fluidum an sich, man fühlt sich in ihr „zu Hause“. Nicht nur die Tschechen, sondern auch die Kroaten, die Triestiner, die Ukrainer, die Rumänen, die Polen, sogar — was sie nicht laut sagten — die Madjaren. Wien ist die „urbs“ aller dieser Völker. Die „urbs", das heißt: die Ordnung, der Friede, die Kultur. Vor allem der Friede. Durch den Filter von Wien verloren die Völker ihre Schrecken, sogar die so oft gefürchteten Teutonen. Der sehr kluge Masaryk sagte einmal: Nicht Weimar und Potsdam seien die beiden deutschen Gegenpole, sondern Bismarck und Beethoven. Eine geradezu klassische Definition. Aber Beethoven — ist nicht auch er: Wien? In dem großen Reich, das von Wien aus gebildet, geschaffen und regiert wurde, gelang auch, was im größeren Umfang sonst nirgends möglich war: die Einheit der lateinischen und der griechischen Christen unter dem einen römischen Papst. Und, was heute in der Welt schon fast unmöglich ist, der Friede zwischen den großen Mächten des Westens und des Ostens, hier ist er noch möglich. Denn die Vertreter der „Großen Vier“ kamen durch all die Jahre hier regelmäßig zusammen, selten einig, außer in dem einen Wunsch, doch nicht auseinanderzugehen. Das Gespräch, so frostig es bisweilen gewesen sein mag — es riß nie ab. Diese Tatsache allein enthüllt der heutigen Zeit mehr denn je die Friedenskraft dieser Stadt.

Unvergleichlich und unvergeßlich mag heute der Blick vom Leopoldsberg sein: Trifft er doch auf einen Fleck der Erde, wo doch noch ein winziges Stück Friede zwischen der Welt herrscht und das Gespräch zwischen „hüben und drüben“ nicht unterbrochen ist. Trifft er doch aber auch auf jene chinesische Mauer, die den Titel „Eiserner Vorhang" trägt und die Europa in zwei Welten scheidet. Rollt doch vor diesem Blick eine Tragödie ab, die ungeheuerlich ist. Sie heißt: Auseinanderleben der beiden durch den „Eisernen Vorhang“ geschiedenen Teile. Immer weniger wissen die Völker jenseits des „Vorhanges“ von denen, die „drüben“ sind, immer weniger wissen die Völker „diesseits“ des Vorhanges von den Menschen auf der anderen Seite. Das Erlernen der Sprachen, die diesseits und jenseits gesprochen werden, wird immer schwieriger, immer seltener. Man kann eine Sprache ja nicht allein vom grünen Tisch sich aneignen, man muß in das betreffende Land gehen, um die Musik einer Sprache zu vernehmen, ihre Atmosphäre einzuatmen, ihr Fluidum zu erfassen, ihre Psyche zu erkennen. Wie sollen die Völker des freien Europa aber die Sprachen lernen, wenn ihnen der Zutritt hinter den „Eisernen Vorhang" verwehrt ist? Wie sollen die Völker hinter dem „Eisernen Vorhang“ von Wien aus gesehen die Sprache des anderen Teiles Europas in sich aufnehmen, wenn auch ihnen der Besuch dieser Länder unmöglich ist? Gewiß, es leben noch viele Slawen in Frankreich, in Amerika, aber in ein bis zwei Generationen werden deren Kinder nur mehr verschwommene Kenntnis der ehemaligen Muttersprachen besitzen- Und mit der Kenntnis des Wortes wird die Kenntnis der Literatur, der Geschichte immer mehr verschwinden, die Verständigung immer schwerer werden.

Allerdings: die Kenntnis, die die Völker westlich Wiens von jenen östlich Wiens hatten, war nie sehr tiefliegend. Wie unbekannt war doch dem Westen Europas die slawische Welt. Sie hielten uns Slawen, gleichgültig welchem Volk wir angehörten, für eine einzige Nation, die nur verschiedene Dialekte sprach. Sie hatten keine Ahnung, daß der Unterschied zwischen West- und Ostslawen größer war als der zwischen Deutschen und Franzosen. Sie wußten so gut wie nichts von den enormen Differenzen — in jeder Beziehung — zwischen den westslawischen Völkern, den Polen, Tschechen, Kroaten, Slowenen, Slowaken. Sie wußten nichts von dem tiefen Mißtrauen aller Slawen — der Bulgaren vielleicht ausgenommen — gegenüber den Russen und waren erstaunt, wenn sie vernahmen, daß der Panslawismus nur bei den Russen wirkliche Bedeutung hatte, bei den übrigen Völkern, besonders bei den Westslawen, ihm aber nur Romantiker oder Narren anhingen.

Die Begeisterung für Dostojewskij, für Tolstoj, für Tschaikowskij, für Smetana, die so-oft in der westeuropäischen Welt anzutreffen war, verstärkte noch eher diese Unkenntnis. Denn aus der Musik, aus der Literatur konnte man tatsächlich einige Wesenszüge erkennen, die allen Slawen eigen sind. So die Schwermut, die Melancholie; die Fähigkeit, vor sich einen „Eisernen Vorhang“ herabzulassen und niemanden in sein Herz sehen zu lassen; die Geduld für Jahrhunderte; die Möglichkeit, in zwei Stockwerken des Daseins gleichzeitig leben zu können, in einem offiziellen und einem nichtoffiziellen wie es der „Brave Soldat Schwejk“ darstellt, der das Entzücken eines Benedetto Croce fand; die Schalkhaftigkeit, die so vieles erträglich macht; und dann jene Fähigkeit, die Rilke in die Worte zusammenfaßte: „Ueberstehn ist alles“. Die westeuropäische Welt glaubte, dies alles sei das Wesen der slawischen Welt, und sie sei schon genügend im Bilde. Sie verkannte, daß dies das Wesen der gesamten Welt, die heute hinter dem „Eisernen Vorhang" liegt, ist, auch der magyarischen. Und sie verkannte, daß das Kennen dieser Merkmale ja nur eine Plattform darstellt, von der aus erst ein Eindringen in die ungeheure Differenziertheit aller dieser Völker möglich wird. Daß diese Merkmale nicht ein Endpunkt der Erkenntnis sind, sondern ein Ausgangspunkt.

Um das Wesen der Völker, die heute hinter dem „Eisernen Vorhang“ leben, zu erkennen, muß man lang in diesem Fluidum leben, in jener Atmosphäre, in jener eigenartigen Mischung, die sich aus allen den geschilderten Wesenszügen zusammensetzt. Erst wenn man diese Atmosphäre kennt, kann man tiefer dringen. Das Anhören einiger slawischer Opern, das Lesen einiger Bücher allein genügt nicht. Es ist Theorie vom grünen Tisch, mit der man bald steckenbleibt. Und hier beginnt einerseits die Tragödie der westeuropäischen, der freien Welt und anderseits die ungeheure Chance von Wien.

Wien ist heute der einzige Punkt des freien Europa, wo ein Stück von dieser Welt lebendig ist. Nicht Oesterreich, sondern Wien. Das berühmte .Wort Metternichs: „Auf der Landstraße beginnt Asien", hat nur eine zu tiefe Berechtigung. Wien birgt eine enorme Kenntnis der Welt des Ostens in sich. Hier gibt es keine theoretische Erkenntnis, hier sind dem Volk schon die Wesenszüge aller Völker, die östlich von der Donaustadt wohnen, in die Seele gedrungen und sind mit dem Lebensstil des Westens zu einer großen Synthese gekommen. In Wien kennt man die Melancholie des Ostens wie erstaunt waren immer Italiener über die tiefe Schwermut, die aus allen Wiener Volks- und Heurigenliedern klingt; jeder Wiener hat schon die Fähigkeit, vor seiner .Seele einen „Eisernen Vorhang“ herunterzulassen und niemanden hineinblicken zu lassen eine Fähigkeit, die Westeuropäer immer in Erstaunen setzte, ja ihren Zorn erregte, da man sich doch bei diesen Wienern „nie auskenne“; in Wien weiß man nur zu gut um das Rilke-Wort: „Ueberstehn ist alles“ während der NS-Zeit hörte man immer wieder das Wort: „Auch die Türken sind abgezogen"; der Wiener hat von allen Menschen des heute freien Europa das „Talent“, das echt slawische Talent, auf zwei Bühnen gleichzeitig zu „agieren“, er hat das Talent, ein Dasein zwischen „Traum und Leben“ führen zu können, wie es unübertrefflich Nestroy in seinem Stück „Zu ebener Erde und im ersten Stock“ dargestellt hat. Dieses Fluidum eben war es, das die Völker des Balkans, Böhmens, Polens, Rumäniens, Ungarns Wien so lieben ließ: Sie fanden sich dort zu Hause, sie fanden aber auch das, was sie suchten: die großen Güter, die großen Werte des Westens. Und diese Güter wurden ihnen vermittelt, ohne sie dadurch in Ketten zu legen, ohne sie zu versklaven, ohne daß daran ein Herrschaftsanspruch geknüpft wurde.

Wien hat als einziger Punkt Europas die große Chance, nicht vom grünen Tisch aus, sondern von, der einzig möglichen Plattform, eben dieser Atmosphäre der slawischen, der östlichen Welt, eine lebendige Kenntnis der Sprache, der Literatur, der Geschichte aller dieser Völker zu erwerben. Eine Chance, aus der sich schon eine Pflicht ergibt: diese Möglichkeit auszunützen und sich mit den Sprachen, den Literaturen, den Geschichten der Kunst dieser Völker zu beschäftigen. Ohne Hintergedanken, ohne politische Absicht. Allein vom Standpunkt der Wissenschaft aus, um Rankes Grundsatz, „wie es denn eigentlich gewesen sei" bzw. „ist“, zu verwirklichen. Es wird der Welt einen ungeheuren Dienst damit erweisen: der „freien", weil es ihr ein wahres Bild dieser Völker vermitteln kann, der „unfreien" dieser aller-dings nur indirekt, weil es ihr die Möglichkeit gibt, daß ihre großen geistigen Güter mit Verständnis, ohne politische Hintergedanken, bewahrt und gepflegt der Zukunft erhalten werden.

„Unsere Augen richten sich nach Wien“, hatte einst Palacky nicht nur für die Tschechen, sondern wohl für alle slawischen Völker der Donaumonarchie gesagt. Mehr denn je hat dieses Wort seine Gültigkeit. Mehr denn je können sich die Augen der „freien" und der „unfreien“ Welt, die Augen der Völker dies- und jenseits des „Eisernen Vorhanges“, die fast nur mehr im Wege der Propaganda voneinander hören und sich immer mehr auseinanderleben, nach Wien richten; mit Blik- ken, die fragen, ob Wien diese seine große Chance begreift und die Konsequenzen daraus zieht.

„Unsere Augen richten sich nach Wien“, dem scheinbar so schwachen und ohnmächtigen Wien, das gerade durch seine politische Schwäche die Fähigkeit in sich birgt, eine Großmacht des Friedens zu sein, eine Insel, über die das Gespräch zwischen „hüben“ und „drüben“ nicht unterbrochen wird, sondern im Flusse bleibt.

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