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Unsere Ufiren gehen falscli...

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UNSERE UHREN GEHEN FALSCH-die einen zu rasch, die anderen zu langsam. Bei manchen Zeitgenossen gehen die Uhren zugleich vor und nach. Unser Leben geht zu schnell und ist zuviel und vielfältig und vielfach. Und in dieser Hast wird die Langeweile zur öden, allzu langen Weile in den Stunden unserer Tage. Die Uhren beherrschen unser Leben wie unerbittliche Tyrannen, unter deren Strenge man atemlos sich langweilt. Wir wollen Zeit gewinnen und Zeit sparen wie Geld — und doch haben wir nie Zeit, wie wir auch nie genug Geld haben. Zeit und Geld — das sind unsere Prinzipien und Probleme. —1 Gott sei gedankt, daß es allzeit unter uns Unzeitgemäße gab, die arm waren. Sie wollten weder von Zeit noch von Geld etwas wissen. Sie sind Reaktionäre, sie sind Revolutionäre, sie sind für den Zeitgenossen Feinde und Verbrecher, weil sie Non-Konformisten sind. Sie machen einfach nicht mit. Sie halten sich draus: sie haben ein anderes Zeitgefühl, und um Geld kümmern sie sich gar nicht. Und doch leben sie. Leben lebendig. Diese Unzeitgemäßen sind arm. Diese Armen haben eine andere Uhr als wir. Und diese anderen Uhren gehen immer richtig. Denn sie. messen nicht nach Stunden und Minuten, sondern nach Heil und Unheil vor Gott, nach Hęgdįęhkeit und,i;F4nsteptųs messen sie. Darin besteht., .die Unbestechlichkeit der j unzeitgemä?; ßen Menschen und deren Richtigkeit vor dem Schöpfer der Zeit. Unsere Uhren gehen falsch, weil wir keine Heiligen sind. Die Uhren der Heiligen gehen richtig. Man muß unzeitgemäß und arm sein, dann ist man ein Heiliger — oder man wird wenigstens einer werden.

Die Heiligen schielen. Die Heiligen haben nur ein Auge, mit dem sie sehen. Das andere Auge haben sie herausgerissen und von sich geworfen, weil sie lieber einäugig ins Himmelreich gehen als mit beiden Augen in die Finsternis der Hölle. Die Welt ist eben ärgerlich: sie hat viel zuviel Farben, die nicht schön und überflüssig sind, sondern unsolid, verzerrt, unrein. Wenn man zuviel in diese Farbkleckse sieht, machen sie einen irr. Darum muß man sein Auge ausreißen. Und Bewegungen sind viel zu viele in der Welt, schnelle, rasche, unsinnige, verwirrende, ganze Lawinen von Kinobildern, von Zeitungen und Fernsehapparaten. Dagegen gibt es nur den stillen Protest: nicht mitmachen, nicht hinsehen, fernbleiben, sich verstecken, sich eingraben, die Augen schließen, und wenn das nicht mehr, nützt, muß man sein Auge ausreißen.

Die Heiligen haben nur ein Bein. Sie haben es Sich abgehauen, damit sie nicht die viele und rasche Bewegung, die Hetze und Hast mitmachen. Sie wollen langsam ins Himmelreich gehen, anstatt mit Eile in die Hölle. Sie wollen lieber auf einem Bein selbständig stehen, als auf beiden postiert sich immer anlehnen, an die Verkehrsmittel unserer Tage und Städte. Denn zum Autofahren braucht man zwei Beine, zum Radfahren braucht man zwei Beine, und die Polizei hat es nicht gern, wenn Einbeinige Motorrad fahren, und die Trambahnschaffner haben es nicht gern, wenn Einbeinige einsteigen. Man kann einfach das Tempo als Einbeiniger nicht mitmachen, darum haben wir, die wir nicht Heilige sind, zwei Beine: um mitrennen zu können und um nicht überrannt zu werden. Die Heiligen haben keine Eile, sie kommen nie zu spät, weil sie nirgends erwartet werden und weil ihr Ziel immer schon in ihnen ist: Gottes stille, steile Anwesenheit in ihrem Herzen des Gebetes. Alles, was rasch geht und sofort sein muß, ist von vornherein bei ihnen ausgeschlossen.

Die Heiligen haben nur eine Hand, denn sie haben sich die andere wegen des Aergernisses, das sie mit Handlungen gibt, abgehauen. Denn sie gehen lieber einhändig ins Himmelreich als aktivistisch doppelhändig ins ewige Verderben. Ein einhändiger Krüppel wird selten ein Aktivist sein können: sein Handwerk geht langsam voran, und zum Kreuzschlagen genügt eine einzige Hand. Natürlich werden diese Heiligen nicht reich und können den wirtschaftlichen Konkurrenzkampf nicht aufnehmen. Aber es liegt ihnen ja nichts am Reichtum. Sie wollen arm sein und mit der Armut sich auflehnen gegen das Geld.

Die Heiligen haben nur ein einziges Ohr, das andere haben sie sich abgeschnitten und zerstört — denn sie wollen lieber taub ins Himmelreich hineingehen als mit überfüllten Lärmkübeln in den teuflischen Tumult der Ewigkeit geraten. Der Lärm um uns ist groß und droht, trotz städtischen Hupverbots, uns gänzlich zu verdummen. Radio und lustige Musik und Neuigkeiten und Tratsch, Klatsch, Quatsch. Die Zeitgenossen müssen reden, sich aussprechen, sich selbst bemitleiden, indem sie ihre Seelennöte (denen die Seele fehlt!) preisgeben. Aber die Unzeitgemäßen, die Heiligen schweigen, sie lieben die Stille im Gott der Stille. Sie ziehen sich zurück vom Lärm, unbeschädigt von ihm, weil sie nur mit einem Ohre hinhören.

Die Heiligen schielen, die Heiligen humpeln, die Heiligen sind Krüppel, die Heiligen sind halb taub. Sie haben das Aergernis der Welt erkannt und daraus die Konsequenzen gezogen: sie wollten nicht die ganze Welt besitzen und dadurch an ihrer Seele Schaden leiden. Nicht weil sie auf ihre Seele so entsetzlich versessen wären. Nein, im Gegenteil, sie lieben ihre Seele nicht um der Seele und des Selbst willen. Sie lieben Gott und wollen für Gott da sein. Sie sehen auf eine ganz andere Art als wir Zeitgenossen — sie lieben zu schauen. Sie gehen anders als wir — sie lieben den inneren Tanz in Gott. Sie handeln anders als wir — sie lieben das innere Werk in Gott. Sie hören anders als wir — sie lieben zu lauschen in die stille Anwesenheit ihres Gottes. Einäugig, einbeinig, einhändig, ein- ohrig verfallen sie nicht der Um- Und Außenwelt. Da sie aber immer noch ein Auge haben, leben sie trotzdem weiter auf Erden. Da sie immer noch ein Bein, eine Hand und ein Öhr haben, leben sie weiterhin mit uns. Sie verachten weder die Welt noch die Weltaufgabe. Sie verachten auch uns nicht. Aber sie sind gegen den Teufel des Vielfachen und Vielen — diese neueste Gestalt des Diabolos, des Verwirrers der Menschen und Welt. Die Unzeitgemäßen nehmen von der Erde und vom Lebensstil unserer Gegenwart nur das Allernotwendigste und dies immer mit einem ganz bewußten Protest.

Sie gebrauchen die Technik unseres Zeitalters mit äußerster Sparsamkeit. Gewiß lesen sie Zeitung, sie hören auch Radio und sie gehen sogar ins Kino und Theater, sie gebrauchen das elektrische Licht und das Telephon. Aber in Armut. Bewußt gebrauchen sie diese, wie wir sagen, „modernen Errungenschaften“: immer der Gefahr eingedenk, die der unbewußte und selbstverständliche Gebrauch dieser Dinge bereitet. Sie sind auf der Hut, sind wachsam, damit sie nicht in die Versuchung fallen. Die Versuchung immer mehr und mehr zu haben, zu besitzen, zu brauchen, ist „Welt“, und Welt ist Aergernis, und Aergernis ist Schaden der Seele, und Schaden der Seele ist, unfähig zur Anbetung Gottes zu sein.

Die Sensationen, die wir Zeitgenossen brauchen, um uns das Leben zu dokumentieren, verstopfen den Zugang zum inneren Erlebnis des Gebets. Nur dort ist aber das Leben. Die Aktualitäten des Alltags, dies ewig unaufhörliche Vorüberziehen dessen, was wir nicht festhalten können, was uns aber festhält, die Aktualitäten für die Sinne verderben uns die Wirklichkeit: das, was hinter dem Aktuellen steht und dessen Träger ist. Die Wirklichkeit darf nicht vermischt und nicht verwischt werden — es muß die Wahrheit hinter ihr entdeckt werden können, die von der Aktualität verdeckt und verdreckt ist. Die Unzeitgemäßen lieben das Leben und lieben die Wahrheit. Denn darin ereignet sich ihnen Gottes Anwesenheit. Und diese ist unsichtbar, schweigsam, unendlich still. Die Unzeitgemäßen beten. Sie sind einäugige, einbeinige, einarmige, einohrige Beter. Nur so können sie heute und jetzt ihre Aufgabe erfüllen: zu beten. Dies ist die erste und dringlichste Berufung des Menschen, der ein Christ ist: das anbetende Gebet in der Gegenwart des Gottes in der Stille. Alles andere wird ihm nachgeworfen: d. h alles andere kommt an zweiter und dritter Stelle und wird deshalb nicht weniger gut, sondern besser geleistet: die berufliehe Weltaufgabe gelingt in dem Maße, als man Beter ist: unzeitgemäß und arm. — Denn Gott ist das Meer. Wer aus ihm schöpfen will, muß Gefäß sein, sonst wird er bloß naß. Gefäß wird man, wenn man betet und sich nach innen und oben offenhält zum göttlichen Einbruch der Ewigkeit in die Zeit. Wir zeitgenössischen Christen sind aber vollgeräumt mit vielen Sensationen und Aktualitäten. Wir sind im Vielzuvielen daheim und diesem ausgeliefert, besessen davon. Darum haben wir für Gott, den dreieinigen, keinen Raum und keine Zeit. Wir werden vom Göttlichen höchstens naß — aber wir schöpfen nicht aus ihm, weil wir kein Gefäß sind. Genügt dies?

Aber es sind viele unsichtbare Beter unter uns, die ebenso unauffällig sind “wie der dreieinige Gott, zu dem sie sich hinhalten. Diese unzeitgemäßen Beter, diese betenden Armen, die Heiligen, haben in keinem Jahrhundert gefehlt. Es gab immer die zehn Gerechten, auf denen die Weltgeschichte beruht. Es gab und gibt immer die vielen Unbekannten und Unsichtbaren, die dem vielen Leben der Aeußerlichkeit einen Sinn vor Gott geben — trotzdem! Wir Zeitgenossen sollten diesen Heiligen danken. Und sollten Gott danken für diese Berufenen mit den richtig gehenden Uhren. Heute, und jeden Tag wieder neu, will ich Gott danken für den Zeitgemäßesten aller Unzeitgemäßen, für den Aermsten aller betenden Armen: für den Säulensteher Sankt Symeon aus dem fünften Jahrhundert. Er hatte die richtige Gottesuhr. Sein Lebensraum war der LImfang einer Säule (war sie zwei Meter im Durchmesser?). Und er stand auf einem Bein während 16 Jahren zur Buße dafür, daß dieses Bein einmal dem Teufel folgen wollte. Symeon irfor W - ?' -TH r.a T mr Kfm - t? ’ ist ein guter Patron unserer Zeit. Er ist ein notwendiger Patron unserer Gegenwart: wie wenig Raum, wie wenig Festigkeit und Sicherheit des Stehens in der Welt braucht man!

Das ist Protest. Protest gegen die eigene Anfälligkeit durch das viel zu viele laute und akti- vistische Leben. Protest gegen die lärmverfallenen Zeiten aus Technik und Atomzertrümmerung. Im äußerlichen Protest kann die innere Profeß, das innere Anhängen an Gott heute noch gelingen: unzeitgemäßer und armer Beter zu werden. Sage und schreibe: EIN HEILIGER.

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