7116044-1996_15_24.jpg
Digital In Arbeit

Unsere Vettern im Regenwald

Werbung
Werbung
Werbung

Orang-Utans sind scheue Baumbewohner. Ihre Beobachtung ist äußerst schwierig, daher waren sie die letzten großen Menschenaffen, die erforscht wurden. „Meine Orang-Utans - Zwanzig Jahre unter den scheuen .Waldmenschen' im Dschungel Borneos" ist ein spannender Bericht von Birute M. F. Galdikas über die Erforschung der großen Primaten und ihr vor allem in den ersten Jahren aufreibendes und entbehrungsreiches Leben in einem primitiven kleinen Lager im Naturschutzgebiet Tanjung Puting in der Provinz Kalimantan auf Borneo. Viele Jahre nach ihrer Ankunft im Jahr 1971 wurde es als Forschungsstation Camp Leakey berühmt und von immer mehr Touristen besucht.

Von den einst hunderttausenden freilebenden großen roten Primaten gibt es in den rasch dahinschwindenden tropischen Regenwäldern Borneos und des nördlichen Sumatra nicht einmal mehr 30.000. Nur zehntes fünfzehntausend leben in Begen-waldreservaten oder Naturschutzparks, welche sich bis auf ein Schutzgebiet in Sumatra alle auf Borneo befinden. Der berührend geschriebene Forschungsbericht gibt auch Einblick in die Mentalität und Lebensumstände der Indonesier und Dajak, der Ureinwohner Borneos. Ohne das Engagement der Autorin für die Orangs und ihren Lebensraum könnten sie kaum überleben.

Birute Galdikas hat ihr Leben den Orangs gewidmet, wie vor ihr Jane Goodall den Schimpansen und Dian Fossey den Gorillas. Alle drei Frauen hatten einen gemeinsamen Mentor, Louis Leakey, der .sie für ihre Aufgabe ausgewählt hatte und unterstützte. „Seiner festen Überzeugung nach beobachten Frauen besser als Männer, sind scharfsinniger und besser imstande, Einzelheiten zu erkennen, die im Augenblick unerheblich scheinen mögen. Außerdem seien Frauen geduldiger und lösten bei männlichen Primaten nicht im gleichen Maße Aggressionsverhalten aus wie Männer, auch wenn das diesen nicht bewußt sei."

Birute Galdikas sah ihre Aufgabe nicht nur 4n der Erforschung der Lebensgewohnheiten ihrer Schützlinge, sondern auch in der Befreiung illegal gefangener Tiere zwecks Wiedereingliederung in ihre natürliche Umwelt. Sie wurde zur Ersatz- und Pflegemutter vieler junger Orangs, was ihr nicht nur eine besonders starke Bindung zum ersten Orang-Baby, welches sie zur Mutter erkor, bescherte, sondern auch eine starke Beeinträchtigung ihrer Bewegungsfreiheit. Das Orang-Baby braucht ständigen Körperkontakt mit der Mutter, auch in der Nacht. Ein Durchschlafen war unmöglich, das Einnässen weckte sie jede Nacht bibbernd vor Kälte. Die ständige Gegenwart „der kleinen orangefarbenen Flauschkugel" bestärkte zwar ihre Zuneigung zu ihr, aber die Anhänglichkeit und Eifersucht störten vor allem das Zusammenleben mit ihrem ersten Mann, der einen zähen Kampf gegen die Abhol-zung des Regenwaldes führte.

Die Orangs ernähren sich in erster Linie von Früchten. In Tanjung Puting kannten und nutzen sie mehr als 400 verschiedene Pflanzen. Die Forscherin korrigiert das Klischee vom Orang-Utan als langweiligem Einzelgänger. In einigen Phasen seines Lebens kann er auch sehr gesellig leben. Die „halbeinzelgängerische" Lebensweise ist eine Anpassung. Da Orangs als große Säuger große Mengen Futter brauchen, Nahrung knapp ist und die Nahrungsquellen weit auseinanderliegen, ist die Nahrungssuche allein effektiver. „Ihre Selbstgenügsamkeit macht die Orang-Utans unter den höheren Primaten einzigartig. Für sie kommt die Nahrungsaufnahme an erster Stelle, der gesellige Umgang an zweiter."

Der Mensch ist dem Schimpansen in seinen Empfindungen und seinem Sozialverhalten sehr ähnlich und hat fast 99 Prozent der Gene mit ihm gemeinsam. Der Orang erscheint dagegen dem Menschen eher fremd. „Er hat sich vermutlich vor etwa 14 bis zehn, der Gorilla vor etwa zehn bis acht Millionen Jahren vom gemeinsamen Stammbaum ent-j fernt. Die Ent-I wicklungslinien, die zum Menschen und zum Schimpansen führen, haben sich vor rund fünf Millionen Jahren getrennt."

Birute Galdikas wies nach, daß die Orangs zu den sich am langsamsten fortpflanzenden Säugetieren gehören. Die Weibchen bringen meist bis zu drei Junge zur Welt, die sie acht bis zehn Jahre lang aufziehen. Die Entwöhnung geht mit Trotzanfällen, wie wir sie bei Kindern kennen, einher und erfolgt etwa im achten Lebensjahr. Die Jungen klagen lautstark und hängen mitunter aus voller Lunge schreiend und mit den Fäusten in die Luft schlagend an einem Ast. Mit etwa neun Jahren werden die Orang-Söhne im Normalfall von ihren Müttern vertrieben. In dieser Zeit haben sie auch gelernt, ihre Schlafnester zu bauen, ein Können, das nicht angeboren ist. Sie müssen es jahrelang üben. Eine andere interessante Beobachtung der Autorin war, daß Orangs „Regenschirme" benutzen, ein Verhalten, das bei Schimpansen oder Gorillas nur selten beobachtet worden war. So hielt sich bei starkem Regen ein Orang-Weibchen zwei abgerissene, große, belaubte Äste mit einer Hand über den Kopf.

Wie die Menschen, sind auch Orangs talentierte Nachahmer: „Nachahmung ist SoziÄlverhalten. Obwohl Orang-Utans allein im Regenwald leben, hat Nachahmung als Mittel zur Herstellung und Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen eine ähnlich große Bedeutung wie beim Menschen."

So beschreibt die Autorin, wie ein wildlebendes Backenwulstmännchen (erwachsene Orangmännchen sind an ihren mächtigen Backenwülsten erkennbar) ein befreites Weibchen beobachtet, das mit einer Banane aus einem Bucksack gefüttert wird. Wochen später berichtet ihr ein Dajak-Helfer, wie sein Rucksack verschwand, den er unter einem Baum abgestellt hatte. Oben im Baum entdeckte er das Backenwulstmännchen, das den Rucksack vorsichtig hielt und erst fallen ließ, als der Helfer an den Stamm schlug. Später konnte man beobachten, wie ebendieses Männchen vom Weibchen eine - ihm bis dahin unbekannte - Banane entgegennahm.

Umgekehrt lernten die Autorin und ihr Mann durch die Orangs eßbare Früchte kennen, die aber nur vollreif wohlschmeckend waren. Während ein Orang unter dem Blätterdach fraß und unreife Früchte herunterwarf, sammelten die menschlichen Beobachter die unreifen Früchte und stapelten sie zu einer Pyramide. Obwohl der Orang beim Verlassen des Baumes nicht einmal hingesehen hatte, schlug er drei Tage später die Richtung zu diesem Baum ein. „Ohne eine Sekunde zu zögern, marschierte Kehlsack stracks auf die jetzt reifen Früchte zu, ließ sich vor dem Stapel nieder und verschlang eine nach der anderen mit lautem Schmatzen." Die Forscher, denen schon das Wasser im Mund zusammengelaufen war, hatten das Nachsehen.

In den über 20 Jahren, die Frau Galdikas auf Borneo verbrachte, hat sie mehr als 100 Tiere aus der Gefangenschaft befreit und ausgewildert, denen sonst nur ein sehr kurzes Leben ohne Fortpflanzung beschert gewesen wäre. Damit wollte sie den ortsansässigen Handel mit Menschenaffen unterbinden und die freilebenden Orangs schützen. Ihr Buch ist auch ein leidenschaftlicher Aufruf zur Besinnung und zur Erhaltung des für Mensch und Tier notwendigen natürlichen Lebensraumes:

„Orang-Utans stehen vor der Ausrottung, weil die tropischen Begen-wälder, in denen sie leben, abgeholzt werden, um Bauholz zu gewinnen, Straßen zu bauen, Pflanzungen anzulegen und Dauerfeldbau zu betreiben. Sie sind, wie andere gefährdete Arten, unschuldige Opfer von Bevölkerungs Wachstum, Entwicklungsprojekten und Machtkämpfen. Sie sind die Leidtragenden eines weltumspannenden, unersättlichen Wirtschaftssystems, das die Habgier anheizt, ohne Befriedigung' zu schaffen, Bedürfnisse weckt, aber niemanden glücklich macht." Das Buch endet im Sinne ihres Anliegens: „Und manchmal, ganz flüchtig, aber mit erschütternder Intensität, erkennen wir, daß es keine Trennlinie gibt zwischen uns und der Natur. In solchen Augenblicken schauen wir das Auge Gottes."

MEINE ORANG-UTANS Zwanzig Jahre unter den scheuen „Waldmenschen " im Dschungel Borneos Von Birute M. F. Galdikas Scherz Verlag, Bern 1995 416 Seiten, 16 Seilen meist farbige Abbildungen, Ln, öS 588,-.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung