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Unter dem Gesetz der Gnade

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Luc Estang, einer der bedeutendsten Vertreter des christlichen Realismus in Frankreich, hat einmal gesagt: „Das wesentliche Thema meiner Romane ist das Mysterium von der Freiheit des Menschen, das dem Gesetz der Gnade unterworfen ist.“ Ein Wort, unter das man auch dieses Buch stellen kann, das von der tiefsten Unfreiheit handelt, in die der Mensch sich begeben und in die er andere Menschen zwingen kann. Bis zu einem Punkt, an dem unversehens und ganz gegen die Rechnung, andere Kräfte wirksam werden, die der Mensch nicht mehr in der Hand hat.

Die Geschichte begibt sich in einer nicht näher lokalisierten Volksdemokratie und handelt von einem n,n!Benr5f:oSn3lnunisten,./.1IF' Wäcvst ,unter •frischem Verdacht verhaftet, von seinen Anklägern schließlich freigelassen und vor eine verhängnisvolle

“Aufgabe gestellt“ wird, mit deren Lösung er seine

Treue zur Partei unter Beweis stellen soll.

Estang berichtet in seinem Vorwort von einer merkwürdigen Begebenheit: Ihm sei in der Karwoche des Jahres 1955 von einem Unbekannten ein „Dokument“ in die Wohnung gebracht worden, eben das hier vorliegende Buch, mit der Bitte, es zu veröffentlichen. Er habe das Manuskript nur redigiert, nichts Wesentliches daran geändert. Der Leser ist zunächst geneigt, diese Erklärung als „Kunstgriff“ des Dichters, das Vorwort gewissermaßen als Bestandteil des „Romans“ anzusehen. Aber die Geschehnisse, die dann enthüllt werden, sind von einer so erschreckenden Unmittelbarkeit, die Terminologie und Deutung ist so ganz und gar die eines marxistischen Dialektikers, daß man im Verlauf der Lektüre immer stärker den Eindruck gewinnt, es handle sich wirklich um das Dokument eines Eingeweihten, eines Menschen, der die Dinge am eigenen Leibe erfahren hat.

Die Form des „Romans“ ist schwierig. Aus einer im Gefängnis geschriebenen, von Verhören unterbrochenen Selbstbezichtigung des Angeklagten schält sich allmählich ein rätselhaftes Drama heraus.

Wie konnte es kommen, daß ein so überzeugter Kommunist wie dieser Sigismund, der jahrelang theoretisch und praktisch für die Partei sein Bestes tat, der während des Krieges als Partisane und in der zivilen Widerstandsbewegung sich auszeichnete, schließlich in den Gefängnissen der Staatspolizei landet? „Wenn ich des Verrats angeklagt bin, so bedeutet das, daß ich mich selbst verraten habe“, schreibt er während seiner Haft. „Und dieser Verrat war nur möglich durch irrtümliche Interpretation der Situation, in der ich mich befand.“ Das erstemal erhält Sigismund noch die Gelegenheit, seine „irrtümliche Interpretation der Lage“ wiedergutzumachen. Von der Partei der Beziehung zu einer spionageverdächtigen Agentin eines feindlichen Staates angeklagt, wird ihm, um den Preis eines außergewöhnlichen Dienstes für das System, die Freiheit wiedergegeben. Man setzt ihn als angeblichen Geistlichen im Kampf gegen die Kirche ein. Nach einjähriger Schulung durch den abgefallenen Priester Thaddäus übernimmt Sigismund — den echten Thaddäus hat man inzwischen liquidiert — dessen Identität und wird als Mitarbeiter eines Bischofs eingesetzt. Geschickt weiß er seinen Einfluß zu erweitern, „die tausendjährigen Erfahrungen der römischen Kirche zu fortschrittlichen Zwek-ken umzustülpen“, und die „Entsakralisierung“ des Lebens voranzutreiben. Bis eine unerwartete und ungewollte Fntw'ickluhg einsetzt“. Nachdem er sechs Jahre seine Rolle als Priester Thaddäus gespielt hat, wird ein Wandel seiner Persönlichkeit spürbar — das Bewußtsein des Kommunisten Sigismund beginnt sich in das des Priesters Thaddäus zu „verfremden“. Wenn er seine neue öffentliche Toleranzpolitik gegenüber der Kirche, seine Verdammung der antireligiösen Propaganda der NAP — einer eigens von der Partei für diesen Zweck gegründeten Organisation — in seiner späteren Selbstanklage im Gefängnis mit persönlichem Ehrgeiz und Machtgelüsten, mit einem gefährlichen „Sog“ auch, einer „Veränderung der Psyche durch aufgezwungenes Verhalten“ zu erklären versucht — es bleibt ein Rest, dem mit rationalen Begründungen dieser Art nicht beizukommen ist.

„Ich glaube, meine Psyche wurde nicht verwandelt, sondern vielmehr vor sich selbst enthüllt, verstärkt und am Ende bestimmte sie das Verhalten, dem sie zunächst gehorchte ...“ Das irrationale Moment in dieser Wandlung erweist die Begegnung mit Vater Jonas, einem untergetauchten Priester, den Sigismund nicht, wie es seine Pflicht gewesen wäre, der Polizei verrät. Mit dem er vielmehr eine Auseinandersetzung auf eigene Faust führt, die ihn erschüttert, und bei der der sterbende Jonas schließlich das letzte Wort behält. Alle spitzfindigen Überlegungen des Sigismund-Thaddäus später im Gefängnis verblassen vor der Wirklichkeit der Sterbeszene des Vater Jonas:

„Plötzlich erhob sich seine Stimme zu unerwarteter Stärke: ,lch bin Priester der Kirche Jesu Christi. Ich opfere mein Leben als Zeugnis für diese Kirche. Ich verzeihe meinen Mördern — und Ihnen, Monsignore.' Kaum hatte er diesen Aufschrei vollendet, der die Kranken und das Pflegepersonal starr vor Schrecken verharren ließ, und noch bevor ich selbst daran denken konnte, etwas zu erwidern, ergriff er meine Hand und nahm sie zwischen seine verbundenen Arme. Mit einer Anstrengung, die ihn Tränen kostete, zeichnete er mit meiner Hand über sich selbst langsam das Zeichen des Kreuzes. .Simon von Kyrene', murmelte er — und schloß die Augen.“

Simon von Kyrene, jene Randfigur des Evangeliums, die unfreiwillig in das Geschehen von Golgatha hineingezogen wurde und sich dann nicht mehr aus ihm lösen konnte — damit, scheint uns, ist dem Kommunisten Sigismund, der zum Priester Thaddäus wurde, der rechte Platz angewiesen. Sein unheiliges Spiel kehrte sich gegen ihn, die Wirklichkeit jener Mächte und Kräfte erweisend, die er leugnete.

Man sollte in diesem Buch nicht in erster Linie einen Angriff des Christentums gegen „die militante Doktrin des Marxismus“ sehen. Es bezeugt etwas viel Tieferes. Vater Jonas drückt das einmal so aus: „Die Fundamente der Kirche bleiben die Katakomben!“ So, scheint uns, will auch Estang die Geschehnisse gedeutet wissen durch das Motto — eine Stelle aus Dostojewskys „Brüder Karamasow“, rate das er diese erschütternden Ereignisse stellt.

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