6636539-1957_18_14.jpg
Digital In Arbeit

UNTER DEN DÄCHERN VON WIEN

Werbung
Werbung
Werbung

ZWISCHEN GRILLPARZERS BERÜHMTEM BLICK VOM KAHLENBERG in seiner gan- 2en patriotisch-verliebten Weitsicht(igkeit) und Weinhebers viel kritischerem Hinschauen auf Wien (wörtlich) durch das scharfe Brennglas eines Viertels „Sieveringer” liegt viel mehr als ein bloßes Jahrhundert. „Hast du das Land dir rings besehn”, sagte der alte Hofrat noch und meinte dabei sicherlich auch den bukolischen Rand, ja den einstigen ländlichen Gesamtcharakter der zauberhaften, menschenformenden, verseformenden Stadt: Wien. Petzold, Wildgans und Weinheber haben sie hundert Jahre später ganz anders gesehen: in Rauch und Zeitnot gehüllt. Sie wurden Zeugen der völligen Wandlung der Stadt und ihrer Bewohner, sie wurden Wiens Kritiker, Reformer, Mahner, Richter — ach, sie wurden ja doch wieder seine Sänger, wie nur, ein jeder in seiner Art, die beiden Strauß: der Zigeunerbaron und der Rosenkavalier.

Denn Wien hat sein Gesicht, heute ein anderes als ehedem, aber ein nicht minder ausgeprägtes, charakterhaftes, schicksalhaftes als einst.

Erstaunlich, daß das „Objektiv” des Films das noch nicht entdeckt hat.

DER FILM IST TRÄGE. Er denkt langsam und kommt immer ein paar Jahre zu spät.

Aber — vielleicht ist es gar nicht so leicht, das Gesicht einer Stadt zu filmen? Es scheint jedenfalls vieles vorauszusetzen: den „Blick”, die Fähigkeit, abzuleiten, und eine sehr fortgeschrittene Beherrschung des handwerklichen Instrumentariums. Alles das hat der Film gute 30 Jahre nicht gehabt. Daher tritt auch das Lied der Lieder des Großstadtfilms: das Lied von Paris, von seinen Dächern, seinem Himmel und seiner roten Mühle, verhältnismäßig spät in den -’Fihfir’öälie? nät es~bfHieUtr SO- vrenig wirktrehe Filme vori Weltstädten gegeben, daß man sie an einer Hand zählen kann: Rom, Neapel, Berlin, Prag, vielleicht noch New York Nicht London, Moskau, Tokio.

Und Wien?

WIE ANDERSWO scheidet auch bei uns die Urzeit der ersten 35 Jahre des Films aus. Das Wienerische im Film beginnt relativ spät, vor nicht viel mehr als 20 Jahren, mit der „Maskerade”, die nicht nur das Wien-Aroma in den Film bringt, sondern auch zwei Künstlerpersönlichkeiten ins Licht rückt, die von da ab für den Wiener Film repräsentativ bleiben: den Spielleiter Willi Forst und die Schauspielerin Paula Wessely. (Für die letztere scheint der Tonfilm eigens geschaffen worden zu sein. Wie bestimmte Farben und Geräusche für bestimmte Städte charakteristisch zu sein scheinen, scheint die bedeutungsvolle Musikalität der Sprache und des Tonfalles mit dem wienerischen Wesen der Kunst der Wessely untrennbar verbunden.) Von „Maskerade” gehen denn auch ganze Ströme guter (und anderer) Wirkungen in die nächsten 20 Jahre ein: das gewisse Etwas, das Fluidum des Wienerischen, dann die schwebende Ernst- Heiterkeit, schließlich das Ethische inmitten der Leichtlebigkeit. Auf der anderen Seite leider auch die Verliebtheit in Glanz und Gloria des Säkulums bürgerlicher Wohlhabenheit (wovon der Heurigen- und Backhendlfilm nur ein Ableger, ein sehr sinnbildlicher Nachzüglicher ist), die rettungslose Verlorenheit an die Vergangenheit, die gute, alte Zeit, insonderheit die dämmerige Verspieltheit und Versponnenheit des Fin de siede. Dieses Licht, diese Schatten fallen ganz deutlich und nachweisbar fünf Jahre lang auf die österreichische, wachsend von den Industrieeinflüssen des deutschen Nachbarn filtrierte Produktion, von „Episode” über „Hohe Schule”, „Burgtheater” und „Vorstadtvariete” bis zu „Lumpazivagabundus”.

Merkwürdig übrigens, daß der aktuell-kritische Zeitton, der im dritten Wessely-Film, in der Inflationskomödie „Episode” von Walter Reisch, erstmals anklang, so rasch wieder verstummte. Hier war doch das Gegenwärtige, das Weinheberische, das den Wiener Film aus seine’- Verstrickung in die Vergangenheit hätte lösen können.

TRAGISCH-HEITERES INTERMEZZO in jenen Jahren, da Oesterreich bloß eine deutsche Provinz und Wien eine östliche Gauhauptstadt ist: Die Produktion am Rosenhügel erhält gerade damals den bis heute fortlebenden Namen „Wien-Film” und zugleich, als einzige Filmstadt des Reiches, Narrenfreiheit für „unpolitische” Filme. Aus der Not wird eine Tugend, aus der Zeitferne ein permanentes, bezaubernd-impertinentes ironisches Augenzwinkern: die Unaktualität, die Vergangenheit wird zur Demon- stration gegen die unheilvolle Aktualität und Gegenwart.

Wir verdanken diesem Glück im Unglück manche schöne menschliche und künstlerische Geste. Wir verdanken ihr u. a. die drei Willi- Forst-Filme „Operette”, „Wiener Blut” und „Wiener Mädeln” und damit die gültige Prägung eines besonderen Stils des Wiener Musikfilmes, der in der lokalen Geschichte des Films gleich ehrenvoll fungiert wie die Aetas aurea der Wiener Bühnenoperette, von der „Fledermaus” und dem „Zigeunerbaron” bis zu „Fati- nitza” und „Bettelstudent”.

SO AUSGEPRÄGT UND AUSGESPIELT damit die eine Richtung des Wiener Films ist: die andere Seite, das Visuell-Atmosphärische, das Dokumentarisch-Gegenwärtige Wiens ist uns der Film bis dahin schuldig geblieben. Kriegsende und Nachkriegsnot scheinen vorerst ganz dazu geeignet, diese Lücke zu schließen und aus Trümmern neues Leben, aus Traum und Maskerade hart pulsierende Wirklichkeit wachsen zu lassen. Aber der Wiener Nachkriegsfilm geht ganz andere Wege als der Neoverismo Italiens.

Er knüpft vorerst an 1938 an und wandelt, sich selbst mehr als nötig seine Schwäche, Unselbständigkeit und Absatznot einredend, lange Zeit nur die Erfolgsschemen von 1933 bis 193k ab. Obwohl die heimische Nachkriegs-Filmliste mit forcierten Titeln gespickt ist: „Praterbuben”, „Wiener Melodien”, „Kleine Melodie aus Wien”, „Wien tanzt”, „Verklungenes Wien”, „Abenteuer in Wien”, „Die Fjfeakerroijli” uswfr, tritt uns doch aus ihnen überwiegend Unbezeichnen-: des, Uncharakteristisches, ja der Wirklichkeit Hohnsprechendes entgegen. So munter beispielsweise war dieses erste österreichische Jahrzehnt nach dem Kriege denn doch nicht, daß unter den ersten 181 österreichischen Nachkriegsfilmen 95 heitere (53 Prozent!) und nur 86 ernste (47 Prozent) sein durften … Unerheblich für unser Thema bleiben dabei gesamtösterreichische, nicht spezifisch wienerische Erfolge vom „Engel mit der Posaune” über das Volksstück „Der Hofrat Geiger” bis zum Sonderfall des Oesterreichfilms „1. April 2000”. Schief gerieten zumeist die Viennensia am russisch kolorierten Rosenhügel, nicht ganz überzeugend fielen die Raimund-, Nestroy- und Schubert- Filme im westlichen Sektor aus. Nur der erwähnte Ueberläufer aus Kriegs- und Notzeit, „Wiener Mädeln”, und das umstrittene Experiment der „Wienerinnen”, wie Kurt Steinwender sie sah, stellten jahrelang, allein auf weiter Flur, im Spielfilm das Wienerische dar. Erst in aller- jüngster Zeit stoßen dazu konservative, aber intensive wienerische Töne und Farben aus der — wieder gesamtösterreichischen — „Sissi”- Reihe Ernst Marischkas, die vielleicht einmal wieder syon. Willi ,Forsts leichter ’-lockerer Palette Gefolgschaft erhalten können.

Ringsherum aber sang und klang, klingt und singt es noch heute falsch: weinerlich oder ausgelassen; flüchtet es in vergangene Tage und verbringt die gegenwärtigen bei Wein und Liebelei.

Das fluchwürdige Klischee des sogenannten Wiener Films ist erst in diesen Jahren so richtig international hochgezüchtet worden, und zwar zum erdrückenden Uebergewicht in Wien selbst.

Das Wertvolle an Stoffen und Persönlichkeiten aber haben wir in dieser Zeit exportiert.

VON DAHER GESEHEN, darf die kühne Behauptung gewagt werden, daß der kecke Affront des ausländischen Films „Der dritte Mann” doch auch sein Segensreiches gehabt hat. Er fuhr wie ein ungebärdiger Wind in die Pappendeckel der Sezessionskulissen hinein. Er ersetzte die Naschmarktsopherl durch den schwerbewaffneten Großstadtschlurf. Er schaute Dom, Adelshäuser und Arbeiterwohnungen , gleichsam durchs Kanalgitter und problematisierte durch diese ungeheuerliche Verzerrung und Uebertreibung das gesamte bisherige Filmbild von Wien.

Heil diesem Unheil! Die simple Subjektivität unserer Wiener Lustspielkonfektionäre wurde durch diese nervöse, um jeden Preis originelle Subjektivität eines kuriosen ausländischen Intelligenzakrobaten übertrumpft, ad absurdum geführt.

Hier war ein Weg zu Ende.

Aber hier begann auch ein neuer.

DER ANGRIFF kam gleichzeitig von zwei Seiten.

Da stand der junge Dr. Albert Quendler. Merkwürdig,”daß niemand vor ihm entdeckt hat; : daß das Wesentliche, Atmosphärische, die Magie einer Stadt letztlich doch nicht in der spinösen Fabel des Spielfilms, sondern an der Wurzel des Filmischen: am „Objektiv”, im Dokumentarischen zu fassen ist. In seinen beiden Filmen „Symphonie Wien” und „Die junge Stadt” ist ein ganzes Bündel von Problemen sauber und überzeugend gelöst, vor allem ‘dje von Theoretikern gerne überspitzten, im Alltag tausendmal gelösten Gegensätze, in deren fruchtbarem Wechselspiel das heutige Wien gewachsen und geworden Jst: Gestern und heute, Tradition und Fortschritt, Frommes und Weltliches, Bürgersinn und Arbeiterschaft, Ernst und Heiterkeit. Quendler hat in seinem Afrikafilm „Omaru” überdies gezeigt, wie souverän er die Mischform des „Kulturspielfilms” beherrscht — dürfen wir von hier noch Bedeutendes erwarten?

Und da stand die heilsame Tradition der katholischen „Stephanus-Produktion”, aus deren fruchtbarer Nachkriegsarbeit ein Strom echt wienerischer Kräfte und Säfte („Einer ist mächtiger”, „Der Schatz des Abendlandes”) kam; die sorgfältige Bewahrung hoher Wiener Bühnenkunst durch die von Raimund Warhanek initiierten Opern- und Burgtheaterfilme (bisher: Mozart-Szenen, Götz und Teil); und schließlich die vielversprechenden Talentproben des Sonderlehrgangs Kolms-Veltee an der Akademie, von denen besonders der I. Teil (Winter) der Reihe „Oesterreich, dein Herz ist Wien” wohlgeraten isf.

Schwalben, Schwalben. Es ist Frühling. Noch nicht Sommer.

VON DEM RÜHRIGEN KULTURREFERENTEN einer steirischen Arbeiterstadt stammt das schöne Wort: „Wenn der moderne arbeitende Mensch will, daß er zerstreut werde, anstatt gesammelt, wenn er darnach verlangt, noch mehr von diesem Futter zu bekommen, dann wollen wir ihm nicht dabei behilflich sein.”

Dann wollen wir ihm keine sogenannten, sondern echte Wiener Filme zeigen.

Ein Wiener Großerzeuger dieser Konfektionsgattung meinte einmal, Wien zeige Eignung und Neigung zu „Cinemascope”.

Ich kann es nicht glauben. Ich glaube nicht, daß Wien — vielleicht im Gegensatz zu anderen Städten — richtig und echt nur in bestimmten Farben, Geräuschen und Breitwanddimensionen wiederzugeben ist. Das Geheimnis des Wienerischen liegt tiefer. Und es gibt nur eine dritte Dimension: die Wahrheit.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung