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Überzeugendes Erzähldebüt der jungen Amerikanerin Karen Russell.

Das fulminante Prosadebüt der 1981 in Miami geborenen Karen Russell erschien 2006 mit dem Titel "St. Lucy's Home for Girls Raised by Wolves" und wurde für den "First Book Award 2007" nominiert. Trotzdem ist es eine mutige Entscheidung des Schweizer Verlags Kein und Aber, diesen Erzählband zu präsentieren, denn im Lizenzgeschäft aus dem angloamerikanischen Raum dominiert eher die Roman-Dutzendware.

Verwunderlich ist allenfalls, dass für die deutsche Ausgabe eine andere Erzählung titelgebend wurde: "Schlafanstalt für Traumgestörte" statt "Die Wolfsmädchen vom St.-Lucia-Heim", denn diese Geschichte fasst das Programm des Buches kongenial zusammen. In schrägen, nur leicht verschobenen und deshalb besonders bedrohlich wirkenden Ambientes geht es um die Verstörungen der Pubertät. Was die Wolfsmädchen im Institut der Nonnen von St. Lucia lernen, ist nichts anderes als die notwendige Zurichtung für die bürgerliche Erwachsenenwelt, das heißt den Abschied von "Rudelinstinkt" und Spontaneität und das Eintrainieren von Konkurrenzdenken, Egoismus, Impulskontrolle samt ein paar äußerlichen Ritualen wie den Tanzschritt Sausalito.

Daraus könnte etwas reichlich Plattes entstehen, doch Karen Russell hat - in der Übersetzung von Malte Krutzsch - einen ganz eigenen Ton und ein sicheres Gespür für eigenwillige Versuchsanordnungen. Vor allem aber verblüfft die Verbindung von sprachlicher Subtilität und Rasanz, verwundert reibt man sich oft die Augen darüber, wo die Geschichten hingaloppieren und welche Haken sie dabei schlagen. Angesiedelt sind sie gern in Disneyland-artigen Etablissements; die Väter betreiben schlechtgehende Alligatorenparks oder servicen die Blizzardanlage im Kunstschneepalast, der Handlungsort kann ein touristisches Erlebnisparadies wie die "Stadt der Muscheln" sein, ein Berggipfel, auf dem alljährlich als folkloristisches Event ein Lawinenabgang inszeniert wird, oder auch die maritime Rentnerkolonie "Ins Meer hinaus".

Es sind Orte und Konstellationen einer Gesellschaft, die ihre müden Erlebnisse inszenieren muss, und mit Bedacht errichtet Karen Russell diese Kulissen fast durchgängig auf abgelegenen Inseln. Denn die eigentlichen Abenteuer sind die inneren Erlebnisse und Fantasien der Akteure, die sich in diesen Geschichten alle als Insel wahrnehmen. Häufig verdanken sie das dem Versagen der Väter, die ihre Familien verlassen haben oder sie rücksichtslos in ihre eigenen Spinnereien hineinziehen, die Alligatorenzucht, die Astronomie oder den amerikanischen Traum vom "Treck nach Westen". In dieser Geschichte ist der Vater Minotaurus - ein Bild für eine bärenstarke, auch sympathisch draufgängerische Vaterfigur, liebenswürdig, impulsiv und seinen Obsessionen mit entwaffnender Selbstverständlichkeit alles opfernd, auch das Leben der Familie. Dabei hält Karen Russell sprachlich und kompositionell sorgfältig Balance: Das Bild wird real gefasst - der Vater ist Minotaurus -, und es kippt immer wieder ins bloß Bildhafte zurück. In diesem sprachlich subtilen Changieren liegt das Beunruhigende ihrer Erzählungen.

Die Pubertät bringt auch radikal erlebte Veränderungen im Geschwisterverhältnis mit sich. Wenn Ava erschrocken und zugleich fasziniert bei ihrer älteren Schwester Ossie das Erwachen der Sexualität beobachtet, dann ist es eine Form der Distanzgewinnung, das Fantastische dazwischenzuschieben: Ossie ist von einem Geist besessen, der sie nächtens heimsucht und unverständliche Aktionen setzen lässt.

Skurrilitäten

Andererseits, was kann der Leser schon wissen von den Vorgängen im Sumpfgebiet der abgewirtschafteten Alligatorenfarm, in dem die beiden Mädchen allein zurückgelassen wurden, oder von der Glühwürmchengrotte, nach der die beiden Brüder in "Olivia überall" auf der Suche nach ihrer vor Jahren ertrunkenen Schwester tauchen. Und weshalb Erwachsene sich so verhalten, wie sie es zu tun pflegen, hat ja nicht immer etwas mit Logik zu tun, sei es die Großmutter mit dem Bananenschalenwall vor dem Haus oder Lady Yeti und die Honoratioren bei den entfesselten Eislaufkarambolagen während der Blizzardstunde im Kunsteispalast.

Von all diesen Skurrilitäten wird immer genau so viel enthüllt oder angedeutet, dass die Erzählungen sich mit der Lektüre nicht "erledigen". Den Leser Hals über Kopf in die Geschichte hineinziehen, ihn einen beklemmenden Parcours zwischen Deutungsmöglichkeiten entlanglotsen und dann unerlöst mit seinen Gedanken zurücklassen - das ist die große Kunst der Short Story, die Karen Russell in diesem Debüt überzeugend demonstriert.

SCHLAFANSTALT FÜR TRAUMGESTÖRTE

Erzählungen von Karen Russell

Verlag Kein und Aber, 2008

302 Seiten, geb., € 19,50

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