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Unveröffentlichtes von Hermann Bahr

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Ich muß Ihnen in der ersten Freude gleich sagen, mit welcher Bewunderung mich Ihre kleine Schriit über englische Lokalverwaltung erfüllt, die ich in einem Zuge mit wachsendem Entzücken las. Vor allem gleich der allererste Absatz ist ein wahrer Meisterstreich, man weiß gar nicht, wie einem geschieht, aber indem man glaubt, daß man doch erst zu lesen anfängt, ist man ja schon mitten drin, Sie setzen einen ins Zentrum der lebendigen Wirklichkeit hinein, von der aus man sie sich nun mit dem größten Behagen in aller Ruhe betrachten kann. Und wie dringen Sie überall auf die Sache selbst und bauen Stein für Stein wirklich vor unseren Augen ganz England in seiner geschichtlichen Entwicklung auf, mit so wunderbarer Klarheit, daß selbst Piefkes Augen aufgehen müssen, auf — und vor Scham über. Ihr ganzer Aulsatz ist nämlich im Grunde der schönste Lobgesang auf die Freiheit, eine Freiheit freilich, von der sich Piefke nichts träumen läßt, die Freiheit, die er meint, besteht nämlich darin, in alles dreinreden zu müssen, wovon er nichts versteht, und da er doch dunkel selber fühlt, daß es damit ja nicht geht, hat sie zum notwenigen Correlat, daß es dahinter doch stets beim sie volo, sie jubes des Oberpiefkes bleibt. Von jener wahren Freiheit, die eben darin allein besteht, daß jeder in seinem Raum die Sache, die ihn angeht und die ja deshalb niemand so gut als er verstehen kann, aus eigenem bestreiten darf und so von Kreis zu Kreis immer höher, von dieser konzentrischen Ordnung, in der alles Recht auf der natürlichen Eignung dazu beruht, wird sein ver-biertes Hirn auch nur den bloßen Begriff zu fassen ewig außerstande bleiben. Aber daß er's einmal schwarz auf weiß zu lesen kriegt, mit einer so liebreich anschaulichen Darstellungskraft vorgebracht, ist doch sehr gut, dem einen oder dem anderen wird's doch einen dumpfen Ruck geben!

Was Sie mir über Seipel und darüber, daß weder er noch irgendwer in seiner Umgebung bei diesem furchtbaren Mangel an nichtanalphabetischen Politikern jemals an Sie gedacht hat, schreiben, erinnert mich an ein Gespräch über Sie, das ich vor kaum drei Wochen mit unserem Freunde Sylvester hatte, der, über Siebzig, gesünder, jünger und rotwangiger als je durch die Salzburger Stadt spaziert, wobei ich ihn neulich eine halbe Stunde begleitete. Dabei fragte er mich auch nach Ihnen und fing in höchsten Tönen Ihr Lob zu pfeifen an: „Schad um einen solchen Mann, was hält' der alles leisten können!“ Ich antwortete: „Aber ihr habt ihn ja nie dazu kommen lassen!“ Darauf er: „Ja, natürlich nicht, weil er den großen Fehler hat, daß er halt kein Politiker ist!“ Darauf ich: ??? Darauf er: „Ein Politiker darf vor allem doch seine Partei nicht merken lassen, daß er gescheiter ist als sie. Das vertragen's in keiner Partei. Ein richtiger Politiker muß immer so tun, daß die Partei glaubt, er tut nix, als was sie will, dann kann er alles tun, was er will, denn sie will ja nix und laßt sich alles einreden — nur merken darf man ihr nicht lassen, daß man selber was will. Aber das hat der gute Redlich halt nie verstanden, er is ein genialer Mensch, aber halt gar kein Politiker.“ Die Herren, die jetzt regieren (Seipel natürlich ausgenommen), denken offenbar genau so wie ihre einstigen Genossen in der Partei. Der Wähler sieht in dem Gewählten nur den Exekutor des Willens der Wählerschaft, die Partei Im Abgeordneten nur den Exekutor ihrer Aufträge — wer auf diese Fiktion nicht eingeht, ist ihnen unheimlich. Das ist die österreichische Konzeption — von Demokratie.

Aulrecht erhält mich in solchen Zeiten wirklich nur der Kirchengang, Kant und mein Hausfreund Goethe, den ich eigentlich erst jetzt ganz zu verstehen anzufangen meine, was ich mir übrigens seit bald dreißig Jahren jedes. Jahr um diese Zeit eingebildet habe. Was aber ist vielleicht überhaupt der spannendste Roman der Weltliteratur, vor dem selbst die bösesten Zahnschmerzen zu verstummen scheinen? Das erraten Sie nicht! Das ist Robinson Crusoe, den ich nun, im Orignal und ungekürzt, mit einer unglaublichen Spannung gelesen habe, mit grenzenlosen Wutausbrüchen darüber, daß man ein Werk von solcher geistiger Hoheit dadurch der Menschheit unterschlägt, daß man alles Geistige daraus wegstreicht und ein albernes Kinderbüchl daraus macht. Wissen Sie, daß es sich in Robinson Crusoe durchaus nur um Religion handelt, ja, daß er im Grunde von nichts als der seelischen Entstehung aller Religion handelt? Ich hatte keine Ahnung davon. Ich las ihn 1870 und behielt davon nichts als eine Indianer-geschlchie, denn man hatte mir natürlich nur die dumme Campe-Ausgabe gegeben. Wenn also, jedes Jahrhundert einmal, einen der Weltruhm trifft, so muß der das damit bezahlen, daß die ganze Welt, die ihn liest, niemals erfährt, was er geschrieben.

Der deutsche Buchhandel ist überhaupt ein Problem, das nur derjenige begreifen kann, der weiß, daß diese sämtlichen, täglich in Haufen erscheinenden Bücher nur durch den Kredit überhaupt möglich sind: das Papier, auf dem das Buch gedruckt wird, ist nicht bezahlt, der Druck ist nicht bezahlt, der Buchbinder ist nicht bezahlt und der Autor selbstverständlich schon gar nicht. Alle lassen sich darauf vertrösten, daß bessere Zeiten kommen müssen, es ist eine Art Hasardpiel, wo der Spieler überzeugt ist, wenn er nur jedes Mal den Einsatz verdoppelt, schließlich gewinnen zu müssen. Diese Dinge sehen in der Ferne vielleicht merkwürdig aus, aber in der Nähe glaubt selbst ein solcher Pessimist wie ich daran, daß es schließlich dennoch glücken muß; die Willenskraft der Deutschen ist unüberwindlich.

Aus unveröffentlichten Briefen Hermann Bahrs aus den Jahren 1917 bis 1927 an Univ.-Prot. Dr. Joseph Redlich.

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