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Unversehrte Welt

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IM TALE JOSAPHAT. Eigene Lebensgeschichte. 801 Seiten. Frei 14 DM. GROSS IST DEINE TREUE. Roman des jüdischen Wilna. 578 Selten. Frei 24 DM. ZUR GESCHICHTE MEINES WILNA-ROMANS. 80 Selten. Preis 8,30 DM. EBENBILD — SPIEGELBILD. Erinnerungen. 656 Seiten, Preis 26 DM. Alle von Jose Orabuena. Erschienen Im Thomas-Verlag, Zürich, und Ferdinand-Schönlngh-Yerlag, Mttnchen-Paderborn-Wien.

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IM TALE JOSAPHAT. Eigene Lebensgeschichte. 801 Seiten. Frei 14 DM. GROSS IST DEINE TREUE. Roman des jüdischen Wilna. 578 Selten. Frei 24 DM. ZUR GESCHICHTE MEINES WILNA-ROMANS. 80 Selten. Preis 8,30 DM. EBENBILD — SPIEGELBILD. Erinnerungen. 656 Seiten, Preis 26 DM. Alle von Jose Orabuena. Erschienen Im Thomas-Verlag, Zürich, und Ferdinand-Schönlngh-Yerlag, Mttnchen-Paderborn-Wien.

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Nach seinem 70. Geburtstag entschloß sich der Dichter, der seit 1957 — durch die Publikation seiner lange vorher geschriebenen Werke — einem kleinen Kreis als Jose Orabuena bekannt ist, seine Lebensgeschichte zu schreiben. Er, der dem Leser bisher allein durch seine Romangestalten Einblick in sein Wesen und seine Welt gewährte, erzählt in dem Band „Im Tale Josaphat“ nun von der Wirklichkeit seines reichen, schweren und immer erfüllten Daseins. Er tut es mit schöner, ehrfurchtsvoller Verhaltenheit gegenüber der eigenen Intimsphäre, und noch mehr gegenüber den Menschen, die ihm etwas bedeuten.

Orabuena, seinen Geburtsnamen, gibt er auch in seiner Biographie nicht preis, wurde 1892 in Berlin geboren. Er ist jüdischer Herkunft, empfing aber keine Unterweisung im jüdischen oder einem anderen Glauben. „Ich wußte nichts von Gott. Ich kann mich nicht entsinnen, jemals gelehrt worden zu sein, daß es Gott, und daß es ein Gebet gebe...“ Orabuena hat auch an anderen Stellen von diesen Entbehrungen gesprochen, immer im Sinn eines schmerzlichen Mangels, der sich erst spät als Möglichkeit einer ungeahnten Entwicklung erweisen sollte, als er mit 60 Jahren Christ wurde.

Vorerst treten andere Kräfte für seine geistige Entwicklung auf den Plan. Er, der wider Willen in den kaufmännischen Beruf eintreten muß, sucht Trost in Büchern — eine ziemlich wahllose Lektüre zunächst: deutsche Klassiker neben den großen Russen, Cervantes, Dickens, Manzoni. Daneben zeitgenössische Dichter, unter denen Hofmannsthal Orabuena viel bedeutet.

„Mehr noch, Rettung, Erweckung und Erziehung in hohem Sinn“ gibt ihm die deutsche Musik des 18. und 19. Jahrhunderts. Aber am wesentlichsten, Ausgangspunkt seiner eigensten Entwicklung, ist ein anderes Ereignis. 1916 kommt Orabuena als deutscher Soldat nach Wilna, in die ihn von Anbeginn faszinierende Welt des Ostjudentums: „Eine Gott und seinen Forderungen und seinem Willen sehr ergebene Welt...“

Orabuena, der zwei Jahre in Wilna verbrachte, konnte die schöne östliche Stadt und ihre kindlich-liebenswerten Menschen hinfort nicht mehr vergessen. Sie lebten in seinen Gedankeft und Träumen, bis er, viele Jahre später (1934 bis 1938), in der Emigration, seinen Roman „Groß ist Deine Treue“ schrieb. In einer Zeit, als das „litauische Jerusalem“ seinem Untergang entgegenging, hat er es in unvergeßlichen Bildern eingefangen.

Die schmutzigen Gassen und Höfe, über denen doch ein Zauber liegt, die Wege an der Wilja, Mondnächte, Sonne über glitzerndem Schnee — es steht so deutlich vor uns, als wären wir mitten inne. Nicht minder nah sind die Menschen, die jüdischen Bewohner aller Schichten: wohlhabende Kaufleute und arme Straßenhändler, Handwerker, Kutscher und fröhliche Habenichtse, Schauspieler, Poeten und kluge Gelehrte; Greise, Jünglinge und Kinder, Mütter, junge Frauen und liebliche Mädchengestalten. Orabuena zeigt sie uns in ihrem Alltag und bei ihren Festen; in den Bethäusern, bei der Lektüre des Talmud, „darin man verharrt wie in einem lieblichen Zuhause“; in ihren Familien und bei ihren Geschäften; in ihrer Freude und ihrem Gram; in ihrer Schwatz-haftigkeit und Eitelkeit, der soviel Kindhaftes innewohnt; in ihrem von der Angst überschatteten Glück, und in ihrer hingebungsvollen Beziehung zu Gott, in ihrem Glauben, der all ihr Tun und ihr ganzes Sein durchdringt.

Es geht dem Autor dabei nicht um die einfache Wiedergabe der seinerzeit In Wilna vorgefundenen Verhältnisse und menschlichen Schicksale; sondern er zeigt sie uns im Zauberspiegel der Poesie, der ihre eigentliche, ihre innere Wahrheit sichtbar macht. In der einige Jahre nach der Fertigstellung des Romans geschriebenen Studie zur Geschichte des Wilna-Buches sagt Orabuena einmal, daß er weder die Nichtigkeiten noch das Wichtige im Leben seiner Charaktere so gibt, wie sie verlaufen, sondern, nach Art der Kunst, so, wie sie verlaufen könnten. „Es ließe sich auch mit großer Berechtigung sagen, daß ihr Leben in der Tat vergehe, wie ich es darstelle und nicht, wie es ihnen scheine...“

Wir haben uns nun einer Figur — David Orabuena — zuzuwenden, die im Mittelpunkt der beiden Bücher des Autors steht, die von jüdischen Schicksalen berichten. In seiner Lebensgeschichte, und vorher in der Studie zum Wilna-Roman, erzählt der Autor, daß er 1934 in einer jüdischen Geschichte von den Schicksalen der Ärzte Orabuena las, die 1492 mit ihren Glaubensgenossen aus Spanien und Portugal vertrieben wurden. „Und mir gefiel der Name Orabuena, und ich nahm ihn auf, denn er war nicht mehr in der Welt.“ Zwei Jahrzehnte später wird der Autor diesen Namen zu seinem eigenen machen. Vorerst aber, während der Vorarbeiten für den Wilna-Roman, ist eines Tages der Gedanke da, einen David Orabuena, den se-fardischen Juden, in die Umwelt aschkenasischer Juden zu führen, um „den Westen mit dem Osten zu verbinden ...“

So läßt er denn seinen David im Jahre 1912 als alten, weisen Mann nach Wilna reisen, um die Verwandten seiner dort geborenen Mutter kennenzulernen; und er macht ihn zu einer „Figur der Mitte“ für alle die reizbaren und unausgeglichenen Wesen jener ostjüdischen Welt — zu einem, „der lautlos und in Liebe alles und alle beherrscht“.

„Ahnt man, welchen Genuß es bereitet, eine solche Gestalt zu besitzen und sie in Bewegung zu halten, damit Bewegtheit und Kraft von ihr ausgehe? ...“

Man wird begreifen, daß es für Jose Orabuena schmerzlich war, nach Abschluß seines Romans von David Abschied zu nehmen, daß er nach Möglichkeiten sann, weiterhin mit ihm umzugehen. Der Rückgriff auf das frühere Leben seines Helden lag nahe. Aber es wurde 1946, bis Orabuena schließlich mit dem ersten Teil der Lebensgeschichte Davids „Kindheit in Cordoba“ begann, und erst 1953 beendet er das große Buch „Ebenbild — Spiegelbild“, in dem er seinen Helden selbst seine Erinnerungen erzählen läßt. In den Erzählungen über den großen, weitverzweigten Familienkreis der Orabuena erweckt der Autor manche Erinnerungen an die eigene Kindheit und Jugend. Aber das eigentliche Thema ist doch „das allen Geschöpfen Gemeinsame“ — die ewigen Erfahrungen des Menschen. Und das Besondere ist der heute ungewöhnliche Blickpunkt: alles wird mit dem Auge der Liebe gesehen. So entsteht eine unversehrte — nicht eine verklärte! — Welt, die wie ein Wunder erscheint in einer Zeit, die das Dunkle, Abgründige und Verdorbene zu kultivieren pflegt.

Orabuena ist sich des Wagnisses bewußt, heute so zu schreiben, wie er es tut, aber er hat auch die Hoffnung, unter seinen Lesern Freunde zu finden, denen die Liebe, der sie in dieser Lebensgeschichte begegnen, willkommen ist — „eine Wohltat für das eigene, oft müde und verworrene Herz“. Der Leser überzeuge sich selbst! Er wird in Orabuena einen Menschen finden, der ihm Unschätzbares zu vermitteln hat, der aber nicht leicht und schnell zugänglich ist. Gewiß, er, der viele Jahre auf die Veröffentlichung seiner schönsten Bücher warten mußte, der in den Wind zu schreiben schien, er braucht auch uns, unsere Anteilnahme und Resonanz, unsere Liebe und unser Verstehen. Aber die Beschenkten bei der Lektüre sind wir.

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