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Urlaub

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Die Zeit ist kostbar, der Urlaub kurz, die Welt ist groß. Man lebt nur einmal, wer wagt gewinnt, wer rastet, der rostet. Der Mensch denkt und der Mensch lenkt, er steuert sein Autogeschoß in die freie Natur, er genießt sie doppelt, weil er dreimal so schnell fährt und viermal so viel sieht. Reisen bildet. Man hat seine Ziele. Der gleißende Bandwurm der Straße rollt sich in den Wagen hinein und haspelt sich rückwärts wieder ab. Friedliche Felder fließen im Drehwinkel vorbei,die Räder rauschen, aber immer noch kriecht einer voran, den es zu überholen gibt. An einem stillen See hält man, man arrangiert sich, man knipst, man steigt wieder ein und fährt weiter. Es gibt noch so viel zu sehen und man will ankommen. Genießen kann man die Landschaft viel besser an nebeligen Winterabenden mir Farbdiapositiven zu Hause, da wärmen sie das Herz und man muß nicht viel reden. Bilder ohne Worte.

Die Frau sitzt neben dem Fahrer, ein Urlaub sieht anders aus, man wird nicht jünger — beiderseits. Im Fond, wie ein schwarzer Weidenbusch, die Schwiegermutter, es ging nicht anders. Edel sei der Mensch. Hilfreich und gut hält sie die Kinder an den Händen. Sie zählen Telegraphenstangen. Bald zählt man mit, es beruhigt und lindert die Nervosität. Die 200. Stange schwankt, die 300. marschiert groß über die Fahrbahn. Man tritt auf die Bremse und schreit „Obacht!“, um die Mitfahrer zu warnen. Der brave Mann denkt an sich selbst zuletzt. Von marschierenden Telegraphenstangen keine Spur, die stehen alle am Straßenrand in Reih und Glied. Man steigt aus und stärkt sich mit einem Schluck Cognac. Die marschierenden Stangen stören dann nicht mehr.

Am Abend vibrieren die Nerven wie ein Elektrititätswerk. Die geringste Berührung erzeugt Funken. Man ißt schweigsam. Die Kinder schweigen. Man geht schweigsam zu Bett. Noch zwei Tage, bevor man ankommt. Drei Tage hin, drei Tage zurück, dazwischen eine Woche Erholung von und für. Von Erholung keine Rede. Das Geld für den Urlaub hat man sich vom Mund abgespart, man kann es jetzt hineintun, aber der Appetit fehlt. Alles für die Familie. Man kauft Andenken. Die Kinder wollen Abzeichen, echtblechernes Edelweiß, wo man ans Meer fährt. Die Schwiegermutter stöhnt nach einem breitkrempigen Strohut, die Frau schlägt die Wimpern auf einen ziegelroten Schal. Der Klügere gibt nach. Der Klügere? Nach einer halben Stunde fragt man sieh, warum man das Zeug gekauft hat. Inmitten zunehmender Spannung erinnert man sich zum Glück an einige Tanten, die sich darüber freuen werden, inklusive des persischen Blumentopfes. Geben ist seliger.

In einem fremden Land. Wie gleichgültig das Volk das schwerverdiente Geld hinnimmt, nachdem es mit Schalmei, Schlössern und schönen Mädchen auf lachenden Plakaten geworben hat. Man wird sich noch entschuldigen müssen, daß man zum Fremdenverkehr beiträgt. Endlich, endlich! Das Meer, sehr überraschend. Zwei Stunden vergehen, bis man sich in der Pension eingenistet hat, zwei bis man überhaupt einen Platz am Strand findet. Der Himmel wunderbar staubblau, das Meer bleiblau, die Stimmung blau. Hätte man auch zu Hause haben können. Geschrei, Gezeter,

Gelächter, Radiogeplärr, Zeitungsleser, Schnarcher, Liebende, Eisverkäufer, Limonadenverkäufer, Eislimonaden, Limonadeneis, der Frau ist heiß, die Kinder sind durstig, die Schwiegermutter lechzt, man wird zur reinsten Wechselstube. Die Gedanken sind frei. Das Buch liest sich schlecht, als Kopfkissen taugt es noch. Übrigens sind Bestseller übers Jahr überholt, die Strapaz steht nicht dafür, und außerdem: wer fährt schon ins Ausland, um einen Roman zu lesen? Lesen kann man zu Hause, an nebeligen Winterabenden, wenn es nichts zu sehen gibt als immer dasselbe, dieselbe Schwiegermutter, dieselbe Frau, wenn man ans Haus gebunden ist, „husband“ — im Englischen nennt man das Kind beim richtigen Namen.

Kein Abenteuer, kein kleines, nicht einmal eine Möglichkeit dazu. Man schämt sich seiner weißen Beine, seines schütteren Haars, seiner undeutlichen Muskeln. Was für ein Hallodri man doch einmal gewesen war Glücklich ist, wer vergißt. Er steht auf, steigt über diesen Kopf, jenen Busen, manchen Schenkel, er watet durch eine. See gestrandeter Leiber, und von der jungen Schönen trennt ihn nichts als Luft und Bikini.

Atoll ahoi! Links spielen Männer Karten, rechts trinken sie Bier, ein ganzes Hofbräuhaus auf Reisen. Muttersprache, Mutterlaut. Er geht langsam den Strand entlang, ziemlich weit zu den unwirtlichen Klippen hin. Allein sein und sich sammeln. Bei den unwirtlichen Klippen findet er andere sich Sammelnde. Es sind Landsleute. Man kommt ins Gespräch. In der Fremde nähert man sich denen, die man in der Heimat meidet. Ganz meinerseits. Ganz Ihrer Meinung. Kann ich mir gut vorstellen. Das waren noch Zeiten. Man erwähnt und vergleicht: Hotelunterkünfte, preiswerte Restaurants, Hummern, Steaks, Käsesorten. Man diskutiert: Autos, Steuern, die politische Lage und ist einer Ansicht Man spricht: vom nächsten Urlaub. Pläne, Pläne, Pläne. Das Bessere ist der Feind des Guten.

Da wendet sich der Gast und kehrt zu den Seihen zurück. Wieder der rosabräunliche Ozean gestrandeter Leiber, hier eine Schulter, dort ein Arm, ein Knie, der Riesenstrohhut der Schwiegermutter, die streitenden Kinder, die friedenstiftende Frau. Noch eine volle Woche. Er denkt nach. Denken ist ihm zur Gewohnheit geworden. Nächstes Jahr soll es ein anderer Urlaub sein, als kluger Mann wird er ihn vorbauen: ohne Fracht, frei, allein, jünger, verloren, unbekannt, zu 'zweit. Des Menschen Wille.

„Du strahlst vor Vergnügen“, sagt seine Frau. „Der Urlaub tut dir gut. Die Entspannung hat dir gefehlt.“

Was zuviel ist ist zuviel. Der Himmel eine Glasglocke, die Luft dick, der Lärm ein Bienenschwarm. Hoffentlich regnet es morgen, den ganzen Tag, die ganze Nacht, die ganze Woche, Regen reinigt die Luft, er beruhigt die Nerven, man schläft tief, man weiß von nichts, man schläft wie ein Stein, wie ein Meer.

Man müßte wieder fahren. Es gibt vieles, was man noch nicht kennt. Unendlich vieles, und das Leben ist kurz. Eine Heimreise auf Umwegen? Kreuz und quer ohne Hast, voller Überraschungen.

Am Morgen sind die Koffer gepackt, das Auto ist fahrtbereit, die Stimmung ist schlecht. Es regnet. Aller Anfang ist schwer. Wieder Telegraphenstangen, Telegraphenstangen, Telegraphenstangen. Schwalben darauf. Sie machen noch keinen Sommer.

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