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Urlaub im Geleitzug

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„KEIN MENSCH MEHR kommt zu mir herauf”, klagte uns droben auf dem Wechsel der Hüttenwirt sein Leid. Die Pacht des Schutz- hauses würde er im Sommer zurücklegen, berichtete er, denn um seine Liebe zum Berg allein könne er sich nichts kaufen. „Sie sehen’s ja selbst: wo kein Sessellift ist, sind auch keine Leut’.” Tatsächlich schien, was wir sahen, dieses Pauschalurteil zu bestätigen. Wir waren nur unser sieben, die der ungewöhnlich schöne Vorfrühlingssonntag zu genußreicher Mittagsrast in der heimeligen Hütte über der Baumgrenze zusammengeführt hatte, auf einem der schönsten Aussichtsberge in der weiteren Umgebung Wiens, dessen prächtiges Panorama in seiner Art wenig Gegenstücke hat. In Mönichkirchen unten waren wir noch Bestandteil einer großen Masse gewesen; gut ein Dutzend Reiseautobusse und mehr als hundert private Fahrzeuge parkten auf den Wiesen und Wegen und vor den Hotels, 500 Menschen wären am liebsten zur gleichen Zeit mit dem Lift hinauf zur Schwaig gefahren. Hinter den Fenstern des Haller-Hauses, zu dem man von der Bergstation eine halbe Stunde geht, erkannten wir mißgelaunte Leute, die, unfreiwillige Amateurjongleure, zwischen vollbesetzten Tischen ihren Tee tranken. Auf dem Weg zur Höhe aber begęgneten wir in den folgenden drei Stunden niemandem: Ein seltsames, aber sehr spezifisches Charakteristikum unserer Zeit, dieser moderne Tourismus oder, wie man bei uns sagt, der Fremdenverkehr!

35 MILLIONEN MENSCHEN waren, schätzen die Statistiker, im letzten Jahr in der Hälfte Europas diesseits des Eisernen Vorhanges auf Reisen. Eine wahrhaft gigantische Völkerwanderung, die jährlich größere Ausmaße annimmt, vollzieht sich seit einigen Jahren, seitdem die Konjunktur das Volkseinkommen steigerte, zwischen Aetna und Nordkap, zwischen Dürnstein und Viareggio, zwischen Scheveningen und Zürs. Mit eindrucksvollen Zahlen können die Fachleute dieses große Wandern illustrieren. So haben sich etwa im Jahre 1956 2,842.793 Urlauber aus dem Ausland in Oesterreich aufgehalten. Die österreichischen Hotels, Gasthöfe und Pensionen meldeten füri das letzte Fremdenverkehrsjahr 28,6 Millionen Uebernachtungen, davon 14,9 Millionen Ueber- nachtungen ausländischer Gäste. Drei Milliarden Schilling nahm die Nationalbank an Devisen von den fremden Touristen entgegen. Diese Ergebnisse, teilt man mit Stolz in der Pressestelle der Oesterreichischen Fremdenverkehrswerbung mit, seien um 42 Prozent höher als im damals aufsehenerregenden Fremdenverkehrsjahr 1936/ 1937. Das Ergebnis des Ausländerverkehres läge sogar um 133 Prozent höher als in jener Saison Aus den Berichten, die jetzt laufend in den Wiener Zentralstellen einlangen, gehen noch andere bemerkenswerte Details hervor. Allein in den ersten zehn Monaten des letzten Jahres etwa haben die Zöllner an den österreichischdeutschen Straßenübergängen 8,319.339mal Stempel in Pässe gedrückt. Nur im Juli und August wurden in Kärnten 2,229.178 Uebernachtungen gezählt.

Weil die entsprechenden Zahlen erst nach Monaten “endgültig ermittelt werden können, liegen für die Wintersaison 1957 noch keine Angaben vor. Aber man kann annehmen, daß die Rekorde des letzten Jahres heuer noch übertroffen werden. Schon nehmen die Reisebüros Buchungen für den Sommer entgegen und in zwei, drei Wochen werden auf dem Semmering einander wieder die Busse begegnen, jene der Italiener, die nach Wien, und jene der Wiener, die nach Venedig fahren. Wieder hebt das große Wandern an, und uns kommt in den Sinn, daß Psychologen die Reiselust des modernen Menschen als „Flucht vor sich selbst” definieren.

DIE SEHNSUCHT NACH DER FERNE freilich hatte der Mensch wohl schon immer im Herzen. Auch diese Sehnsucht mag man als Fluchtsituation erklären; wahrscheinlich sind wir Menschen immer schon unbewußt auf der Flucht gewesen, vor der Unruhe in uns, vor dem vielleicht, was die Religion als Erbsünde erklärt.

Die Mittel für die Erfüllung dieses Triebes in die Ferne hat uns erst die Technik zur Verfügung gestellt. Als der Großvater unseres Vaters von Wien nach Baden in die Flitterwochen fuhr, mag er wohl an Italien gedacht haben, mit einer großen kleinen Sehnsucht im Herzen, während die munteren Pferde die schwarzgelbe Postkutsche durch Mödling zogen. Ja, wunderbar mußte es sein, die Welt zu sehen. Italien. Rom. Das blaue Meer, von dem die Dichter sangen. Aber eng war die Chaise, unbequem und langsam. Schon nach Wiener Neustadt fuhr man fast einen Tag.

Wir aber können im Expreß von Bahnhof zu Bahnhof rasen, im bequemen Bus fahren wir über Alpenpässe hinunter ans Meer. Heute in Wien, morgen auf dem Markusplatz, übermorgen in der Ewigen Stadt, und durch alle Fährnisse der Fahrt geleitet uns ein kundiger Reiseleiter.

DIENST AM KUNDEN wird natürlich in den Reisebüros ganz groß geschrieben. Heute morgen fanden wir im Postkasten den Sommerprospekt 1957. Eine Palme zeigt das Deckblatt, einen Stromlinienzug und ein Schiff. Jawohl, einen großen Ozeandampfer: auch er ist für uns kleine Leute im Urlaub eventuell schon erschwinglich. „Volksreisen” betitelt sich das Heft. Und „Spanien ruft Sie!” finden wir da beim Blättern, „Mallorca, die schönste Insel der Balearen”. 15 Tage, Bahn- und Schiffsreise, Pauschalpreis Wien—Wien 1890 S. Wir rechnen nach: der 14. Monatsgehalt, eventuell ein kleiner Vorschuß auf die Weihnachtsremuneration, und auf dem Sparbuch haben wir auch noch etwas: tadellos geht sich’s aus. Zwei Wochen lang werden wir fast so gut leben wie der Direktor unserer Firma, werden wir dem Alltag entfliehen, keine geplagten Angestellten mehr sein, sondern unschwärmte Gäste aus der Fremde.

Wirklich erstaunlich, wie sich der Grundsatz von den kleineren Preisen bei größerem Umsatz in der Tourismusbranche zu bewahrheiten scheint. Wir blättern in dem bunten Heftchen, und verlockende Träume von Palmen am Meer, von schwarzhaarigen Mädchen und römischem Gemäuer scheinen greifbar real; kaum einer ist teurer als das Urlaubsgeld, und was man während der Reise für die kleinen Bedürfnisse des Tages braucht, wird man sich bis zum August ersparen. Athen — Kanal von Korinth — Insel Korfu—Rom: Preis 1698 S Wien—Wien. 19 Tage Erholung im Adriaseebad Caorle: 998 S (es soll fast eine Dependance des Gänsehäufels sein, hört man, so viele Wiener fahren dorthin). 10 Tage Sizilien—Neapel: 1098 S. 9 Tage Schweiz, Montblanc—Matterhorn—St. Bernhard— Gardasee-Dolomiten: 1390 S.

Seitdem die Sehnsucht nach der Ferne kommerzialisiert ist, sitzt im Gesellschaftsreiseautobus der Prokurist neben seinem Buchhalter, kostet der originale Päpstliche Segen nur noch 999 S.

Jawohl, auch dafür sorgt das Büro. „3. Tag: Rom, 8.30 Uhr Beginn der Ganztagsrundfahrt”, verheißt der Prospekt. „Vormittags: Besichtigung der Kapuzinerkirche und Gruft, Museum und Galerie Borghese, Janiculushügel, Engelsburg, St.-Peters-Kirche (Vatikanstadt, Päpst-, licher Segen um 13 Uhr). Nachmittags: Fontana di Trevi, Pantheon, Kolosseum, Forum Ro- manum, Kapitol, Romulustempel usw.”

MAN WIRD EIN WENIG NACHDENKLICH. Der Heilige Vater eine Touristenattraktion? Ein wenig mehr Ehrfurcht stünde dem Reisebüro wohl an. Vielleicht, lieber Herr Direktor, könnten Sie nächstes Jahr etwa folgenden Satz in den Prospekt drucken lassen: „Für Katholiken besteht die Möglichkeit zum Empfang des Päpstlichen Segens.”

Es gibt im Inland noch Unerfreulicheres zu unserem Thema. Wir meinen hier nicht in erster Linie das rücksichtslose Ausnutzen der Konjunktur, die schrankenlose „Wurzerei” der Gäste, in denen manche Wirte nur den personifizierten „Esel-streck-dich” sehen wollen. Nein, wir denken hier an unappetitlichere Dinge. Feine Leute sprechen nicht über sie, aber man müßte diese Fragwürdigkeiten am Rande des Fremdenverkehrs aufzeigen und abschaffen. Denn Oesterreich hat einen guten Ruf als Reiseland zu wahren. Darum müßten die zuständigen Stellen vielleicht einmal über wirksame Mittel gegen die männliche Geheimprostitution in bestimmten Fremdenverkehrsorten nach- denken. Und man müßte Mittef zur EinhaItung des Jugendschutzgesetzes auf aroeitfrecnmękėm’ Gžbiet finden: Den “Afbe1tsirispektoräfehJ werden jährlich hunderte Fälle angezeigt, wo Jugendliche bis zu 16 Stunden täglich in Fremdenverkehrsbetrieben arbeiten müssen, monatelang ohne auch nur einen freien Tag.

UND AUCH VOM URLAUB IM GELEITZUG müssen wir reden. Auch das gibt es schon, und es scheint fast ein gefährliches Zeichen: die „Gesellschaftsreise im eigenen Kraftfahrzeug”, bei der das Reisebüro, dessen Reiseleiter abwechselnd in jedem Wagen der Kolonne mitfährt, für die gesamte Organisation sorgt. Nur Lenkrad und Gaspedal muß der Urlauber noch selbst betätigen, denn die radargesteuerte Fernstraße gibt es erst als Versuchsstrecke irgendwo in Amerika. Ist die Frage übertrieben, ob in unserer „Welt der Signale” unbedingt auch im Urlaub eine große Anzahl von .,Befehlsempfängern” die Anordnungen eines Führers befolgen muß?

Der Reiseleiter, der mit der Uhr in der Hand seine Schar von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit hetzt, ist leider nicht mehr bloß eine Witzfigur. Die Gesellschaftsreise, der „Sozialtourismus”, beginnt den Nur-Erhölungsaüfent- halt, die Sommerfrische des alten Stils, die in den neuzeitlichen Prospekten „Pauschalaufenthalt” heißt, langsam zu verdrängen. Aber: zuviel in zu kurzer Zeit zu sehen, tut Hirn und Herz nicht gut. Eindrücke müssen verarbeitet werden. Hier liegt die Gefahr der „Volksreise” verborgen; denn wenn man sich von den Ferien erst daheim am Arbeitsplatz erholen muß, ist der Sinn des nach harten Sozialkämpfen errungenen gesetzlichen Urlaubes ins Gegenteil verkehrt.

GEGEN DIE MANAGERKRANKHEIT, die heutzutage auch schon kleine Angestellte erfaßt, ist Ruhe noch immer das beste Heilmittel. Drum, Freunde, auf ins große Abenteuer! Laßt uns einen Ort suchen, wo noch kein Sessellift fährt und keine Seilbahn, wo keine Tanzbar ist und kein Espresso. Wenn wir hinauf auf den Kogel wollen, müssen wir fünf Stunden steigen. Aber wenn wir uns nur ein wenig empfänglichen Sinn bewahrt haben, werden wir wundersame Dinge entdecken. Einen harzduftenden Nadelwald, etwa mit echten Fliegenpilzen auf dem moosteppichbelegten Boden, einen Versteckten Bergsee und berauschend duftende Kohlröserln. Und wenn wir sehr viel Glück haben, finden wir vielleicht sogar ein Edelweiß.

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