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Urlaub von der Stange

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VOR DER TANKSTELLE an derx Bundesstraße 17 lehnt der Wärter und blinzelt in die Sonne. Zwanzig Meter entfernt steht ein blaulackierter Autobus mit viel Glas, Chrom und mit auf dem Rückfenster wie eine Briefmarkensammlung geklebten Reklamezetteln der durch-fahrenen Orte. Weit und breit sind keine Fahrgäste zu sehen. Ob sie die Aussichtswarte bestiegen haben, die. kaum eine Stunde entfernt, einen wunderbaren Blick auf die Gebirgswälle im Süden und auf die blauende Ebene im Norden und Osten gewährt, frage ich den sich sonnenden Wärter. Er macht eine Kopfwendung nach rechts, räuspert sich und spuckt kräftig aus. „Dort im Espresso sitzen sie“, sagt er. Wirklich, es stimmt! Beim Betreten des von Zigarettenrauch sanft durchwellten Raumes mit seinen breiten Schiebefenstern empfängt uns das Klirren von Kaffeetassen und Löffeln, vielstimmiges Schnattern, und über allem das Quieken der in vollem Betrieb befindlichen Musikbox. Am ersten Tisch wird, das ist gleich zu sehen, kräftig gefrühstückt; die Marmorplatte reicht für die Tel'ler und Schalen nicht aus, man hat einen zweiten Tisch zugeschoben. Am übernächsten Tisch, auch das ist sogleich zu hören, streitet man, wer den Schlager aus der Box wimmert. Nebenan machen vier Herren ein kleines Spielchen und haben sich, um frei die Karten hindreschen zu können, die Röcke-ausgezogen und über die Sessellehnen gehängt. Ein fünfter Herr kommt an den Spielern vorbei und sagt: „ln fünf Minuten, meine Herrschaften, gehts weiter!“ Die vier hören kaum hin.

DIE KLEBEZETTEL mit dem Aufdruck „Reserviert“ auf den Fenstern des drittletzten Wagens des D 221 im Wiener Westbahnhof besagen, daß hier eine geschlossene Reisegesellschaft abreist. Der Reiseleiter ist hier etwas nervöser als sein Kollege an der Bundesstraße 17. Er hält mehrere Blätter mit Schreibmaschinenschrift in der Hand und blättert hin und her. reckt den Hals, läuft gegen den Ausgang zu. schaut auf die elektrische Uhr und schüttelt den Kopf. „Es gibt immer welche, die.im letzten Augenblick daherkommen und dann noch wenigstens zwei Wünsche haben“, sagt er hastig und will schon wieder davonhuschen. „Vielleicht fällt ihnen das Aufstehen schwer“, werfe ich hin und halte den Eiligen am Rockaufschlag fest. „Keine-Rede davon“, sagt er, „sie waren schon da, ich habe sie schon abgestrichen, aber sie stehen beim Büfett und essen Würstel.“ Er hätte doch einen schönen Beruf, meine ich. Solch ein Reiseleiter kommt viel in der Welt umher, und es kostet ihm nichts. „Ich trete Ihnen gerne meine Arbeit ab“, kommt es aggressiv zurück. „Welche Erfahrungen haben Sie mit den Reisenden gemacht?“ Erst muß noch ein Reiseteilnehmer „abgestrichen“ werden, dann bekomme ich Antwort: „Mit einem Satz: Alles muß geboten werden. Alles inklusive, alles muß konsumiert werden.“

DER MANN IM REISEBÜRO hat zwei Telephone vor sich und hebt abwechselnd die Hörer. Mit immer gleichbleibender Stimm-höhe und stets der gleichen Ruhe gibt er Auskünfte. „Ja“, höre ich ihn eben sagen, „Sie können an die Reise Nummer 504 die Reise 505 anschließen ... wie? ... nein, keine Schiffsüberfahrt, sondern Flug . .. bitte? .. . rund 1500 Schilling mehr... wie? Für Einbettzimmer beträgt die Aufzahlung 110 Schilling. Bitte, beeilen, es sind nur noch fünf Plätze frei für Ihren Termin.“ So verhandelt man über eine zusätzliche Fahrt von Paris nach London. „Wir haben zwei Typen von Gesellschaftsreisen“, sagt der Angestellte und winkt, weil das Telephon wieder klingelt, eine Kollegin her, die den Satz vollendet: „ ... das ist die .geruhsame' und die .moderne' Gesellschaftsreise, wie wir sie genannt haben.“ Ich will wissen, was bei dem Betrieb, der heutzutage herrscht, geruhsam bedeutet. ..Geruhsam“, sagt die Angestellte, „da? heißt, wir machen an einem Punkt der Fahrt eine der Tour entsprechende Rast. Bei dem dreitägigen Weekend am Radstätter Tauern, hier im Prospekt Nummer 101, haben wir eineinhalb Tage Aufenthalt am Radstätter Tauern; für die Nummer 103. hier, bitte, zu Pfingsten, drei Tage Dauer, davon zwei Tage Aufenthalt in Wildalpen oder Weichselboden . . sehr preiswert ... 212 Schilling .. Einzelzimmer plus 20 Schilling. Die moderne Gesellschaftsreise soll denen möglichst viel bieten, die keinen eigenen Wagen haben und doch binnen verhältnismäßig kurzer Zeit alles Wichtige sehen möchten. Da haben Sie zum Beispiel die große Westeuropafahrt — es gibt bei einer Dauer von 23 Tagen zweieinhalb Tage Aufenthalt für Brüssel, und dreieinhalb für Paris.“ Ich schaue in den Katalog: Sechzig auswärtige Orte: 23 Tage, davon zweieinhalb Tage für Brüssel und dreieinhalb für Paris.

ZEHN MINUTEN STRASSENBAHNFAHRT entfernt, wieder ein Reisebüro. Ein Katalog mit 82 Seiten. „Sommerferien in Westjütland, einmal etwas anderes“, sagt der Mann hinter dem Pult. Pauschalpreis mit Vollpension 2295 Schilling. Wie genau kalkuliert, denke ich. Nicht einmal 2300! Wieder ist, wie der Kollege dieses Mannes zehn Minuten vorher mir auch versicherte, „alles dabei“. Freilich: Hamburg ohne Reeperbahn, was wäre da eine Erholungsreise nach Jütland? Zum vierten Fahrtag wird bemerkt: „Die dänische Küche ist international bekannt, gut und reichlich.“ Und einige Zeilen tiefer im Prospekt: „Bei Badeausflügen großes Lunchpaket statt Mittagessen“. Solche Prospekte haben sich mitunter einen eigenen Code gemacht. „M“ heißt Mittagessen, „AN“ bedeutet Abendessen und Nächtigung. Und so bietet man weiter an: „Sehnsucht nach Hellas“ (alles dabei, ..Roseninsel Rhodos“, „Wundergarten im Ägäischen Meer“, „Tage der Schmetterlinge“). Der Angestellte bemerkt: „Mallorca ist sehr in Mode. Am fünften Tag der Reise sehen Sie das weltberühmte Felsenkloster Montserrat — kostet nur 5 5 Schilling mehr, der Stierkampf in Barcelona macht 35 plus.“ Es ist wie auf einer Speisenkarte gustiös angerichtet. Herr Klampferer freut sich auf Capri. „Die Insel der Glücklichen“, auf Ischia, „Die Insel der ewigen Jugend“, und auf den „Besuch eines typisch italienischen Weinlokals“ (macht 40 Schilling plus), auf Mailand Dom und Wolkenkratzer („Harn ma in Wien a“. sagt der Herr Klampferer und bekommt zur Antwort: .Mailand hat aber den größten Wol Venkratzer Europas, mein Herr“).

UND SO ZIEHEN SIE VORBEI am Auge und in der Erinnerung: die Insassen eines Kärntner Autobusses in OpCina - aussteigen, an die Steinrampe gehen, kaum ein Blick zum Meer, malerische Stellung und Reitsitz auf der Mauer, knipsen — einsteigen: die Gesellschaft vor Santa Maria della Rotonda in Ravenna mit Chiantiflaschen und der Anführer, in die Hände paschend, „Gemma, gemma“ rufend; der Insasse des Sonderzüges nach Brüssel, der gleich nach Ankunft um Abendunterhaltung fragt, sich ein Nachtlokal „Chez Eve“ empfehlen läßt und bis zur Rückreise nicht mehr gesehen wird: die Fahrgäste des dänischen Wagens, die drei Tage Anreise nach Imst hinter sich haben; die Tanzwütigen und Fensterlsüchtigen im Krimmler Tal, wo sich ein Großgasthof nur einzig auf reichs-deutsche Gäste eingestellt hat (bei Tag schlafen sich die meisten aus); die Gesellschaft, welche im Piräus landet und in vier Stunden Athen

„macht“; die Invasion an der „Hausmeister-riviera“ von Caorle bis Senigallia; die deutsche, Biertassen sammelnde Gesellschaft, der nur noch Puntigam fehlt, die „versehentlich“ in Goß landet und mit vierstündiger Verspätung erst loskommt... und so noch viele, viele. Der Betriebsratsobmann, mit dem ich sprach, meinte indes, es werde besser: man habe genug vom Wirbel, man wolle ausruhen und macht höchstens zwei, drei Tage vor Urlaubsende eine kleine Rundfahrt. Warum sucht man die Gesellschaftsfahrten, den Urlaub von der Stange, statt nach Maß (es gibt auch solchen Urlaub, beispielsweise die Schiffskreuzfahrten im Mittelmeer: vor 25 Jahren kosteten sie 490 Schilling, heute 4000 bis 8000 und mehr). Die Antwort des Betriebsleiters: „Man fühlt sich allein, teils der mangelnden Sprachenkenntnisse wegen, man fühlt sich nicht wohl, wenn man sich selbst um alles kümmern muß.“ Das wichtigste Argument lautet: „Es ist eben billiger.“

DER ÖSTERREICHISCHE FREMDENVERKEHR von 1959 belief sich auf 23,787.583 Übernachtungen von Ausländern, 15,856.683 von Inländern. Die Deviseneinnahmen betrugen 5.405,666.000 Schilling. Der Massensturm hat auch — ganz im Winkel — gewisse sozialpolitische Schatten. Die Gewerbebehörde von Innsbruck verhängte wegen Übertretung der Arbeitszeit für ein Hotel im Bezirk Schwaz nur eine geringe Geldstrafe. 85 Stunden wöchentliche Arbeitszeit! Im Hotel- und Gastgewerbe werden oft ungelernte Kräfte beschäftigt — entgegen den Vorschlägen des Kollektivvertrages. Der Grund: „Die Ungelernten schauen nicht auf die Uhr.“ Weiters hat die sichere Erwartung der Fremdentransporte von auswärts zu einer Geringschätzung des Inländers geführt — wenn er nicht über eine dicke Brieftasche verfügt. „Das Ideal wäre - und wir wollen die Jugend dazu erziehen - die kleine kameradschaftliche Gruppe und das Wandern, das wirkliche Schauen in die Natur“, sagt man mir in einem großen Touristenverein. Und der Leiter eines Volksbildungshauses meinte: „Unsere Vorträge wollen den Menschen das Wesen fremder Länder und Völker vermitteln, und wir sagen immer: Nehmt lieber weniger, das Wenige aber gründlich! Laßt die Stadtbekanntschaften und begnügt euch mit euch selbst! Widmet die paar Wochen des Urlaubs eurer Familie!“ Der Arzt meinte: „Das Reisen von der Stange ist eine Zeiterscheinung und von der seelischen Grundstimmung des heutigen Menschen beherrscht, der sich fürchtet, allein zu sein (das erleben Sie ja auch bei der Wochenendfreizeit in der Stadt).“ Ein Kollege von ihm knurrt: „Sie machen ihre Tausende von Kilometern, und ich muß schauen, wie ich diese Leute von der Erholung erholen lassen kann. Das endet entweder im Krankenstand oder im Erholungsheim der Kasse. Das ist ein Wahnsinn!“

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