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Vagabund und Engel

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Wenn Weihnachten da ist, dann werden Millionen Wanderer von Heimweh ergriffen. Sie, die vielleicht stumpf geworden und hart, sie alle möchten an diesem Tag Unterschlupf finden, Licht und Menscherinähe. Die Welt wird zu groß für sie, die Landstraßen sind schwermütige Nebelstreifen ins Nichts, und verrufen ist die Stummheit der rauchgrauen Wälder. Die Ebene ist tönender Schmerz; die Bäume starren böse in den Himmel, der die Ränder der Weite wegschmilzt.

Auch die Gebirge haben strenge Formen, aufgereckt in unschaubare Tiefen, das Eis auf ihren Flanken schimmert gefährlich, die Hütten, die im Sommer lustig schillern, stöhnen im Wind, und das Heu ist ohne Duft, kalt und stechend. Die Almen liegen vergraben, dunkle Klumpen in der blendenden Graue.

Fort! Hinab in den Wald, dessen Stämme wie aus Metall sind und auch so funkeln. Franz hatte sich beim Feuer nicht erwärmt, und das Stück Speck, das er gegessen, lag ihm wie ein Stein im Magen. Er brummte vor sich hin, während er beim Abwärtsgehen zuerst die verglasten Wurzeln mit den Schuhspitzen abtastete, bevor er den Fuß darauf setzte. Es ärgerte ihn, daß Weihnachten kam. Kaum hatte man den einen vierundzwanzigsten Dezember überstanden, drängte sich ein neuer in den Ablauf der Zeit. Er war nicht melancholisch oder traurig, sondern nur schlechter Laune. Er blieb stehen und zündete sich eine Zigarette an. Die Augen, blank glänzend vor Aufsässigkeit, schweiften in die Runde, ehe er sich wieder in Bewegung setzte. Der Rauch seiner Zigarette vermischte sich mit dem Silberrauch, der die Bäume umStrich. Kein Schnee klatschte behaglich von den Bäumen, obwohl es gar nicht kalt war. Nichts rührte sich. Und doch, wenn man regungslos lauschte, dann hörte man ein Raunen, ein rieselndes Gelächter, das aus Fernen kam, die man nicht kannte. Mit wiegendem Gang, aufrührerisch summend, den Kopf nach allen Seiten drehend, so stelzte Franz abwärts. Schließlich kam er an den Waldzaun und blieb dort stehen. Unter ihm, fünfzig Meter tiefer, lagen einige Gehöfte, man sah nur den sich kräuselnden Rauch und die blaßblauen Dächer. Rechter Hand, fast in derselben Höhe, in der er sich befand, stand eine Kapelle. Es schien keine Sonne, Helligkeit berührte nur den Dachrand, der ein wenig schimmerte. Es war noch nicht Mittag, und in die Unordnung eines Hauses zu treten, in dem das Essen nicht fertig war, das wollte Franz nicht.

Auf der einen Seite der Kapelle lagen Baumstämme, dort konnte er sich eine Weile niederlassen. Langsam schlenderte er hin. Die Kapelle kam ihm entgegen, rundbäuchig, mit hohem Schneehut. „Man muß nur schauen, was innen los ist!“ sagte er.

Was sollte los sein? Die üblichen Papierrosen, eine gipserne Madonna mit roten Wangen,- einem himmelblauen Kleid, und den Rosenkranz um die Finger geschlungen. Aber schau, hier gab's doch etwas Sehenswertes, Altertümer, wie er's nannte: drei Barockengel. Zwei kleine, die knieten, und ein großer mit zin-noberfarbenen Flügeln; und dieser war es, der lächelte. Franz, völlig nüchtern und keine Spur erhoben, trat näher und besah sich die holzgeschnitzten Figuren von allen Seiten. Er nahm den größten Engel herab und drehte und wendete ihn, nicht anders, als hätte er eine Pfanne in der Hand, die er nach ihrer Brauchbarkeit untersuchte. Er verzog den Mund, wichtig abschätzend, und er stellte die Figur wieder hin, um sie, zwei Schritte nach hinten tretend, zu betrachten. Dann sagte er: „Du bist dein Geld wert!“

Er stapfte aus der Kapelle, beinahe wäre er auf den vereisten Sohlen ausgeglitten. Draußen ließ er sich auf einen Baumstamm nieder und rauchte. Dann nahm er aus seinem Rucksack einen rupfenen Sack, breitete ihn aus und wurde auf einmal lebhaft. „Alle drei haben sie Platz, nicht nur einer!“ Die Zigarette klebte ihm im Mundwinkel, und er grinste. Am Himmel erschien eine Silbersonne mit verschwommenen Rändern. Franz stand auf und äugte zu den Bauernhöfen hinab. Er ließ sich wieder auf die

Stämme nieder und streckte nun patzig die Beine von sich, es sah aus, als hätte er Holzstäbe statt Waden aus Fleisch und Blut. Er schob die Daumen unter die Hosenträger und dachte nach. Die Engel in einen Sack stecken und übers Gebirg gehen! Das hieß aber, heute in kein Haus eintreten! Das mußte noch überlegt werden.

Er schlummerte ein wenig, die Sonne wurde immer wärmer. Nun war er ein sehr armseliger Mensch, der an der weißen Mauer lehnte und hin und her wackelte. Als er erwachte, überkam ihn die Lust, die Engel in den Schnee zu stellen und sie so zu betrachten. Es war eine kindische Lust, die ihn da überkam. Er holte sie aus der Kapelle, einen nach dem anderen. Wie ein Hund lag er vor ihnen in den Schnee geduckt, als wollte er nach ihnen schnappen und mit ihnen spielen. Dann stand er auf und ging bis zu der Mauer, sie von weitem zu betrachten. Er wiegte sich auf Fersen und Zehenspitzen. Er lachte laut auf, weil sie ihm so gut gefielen. Sie sahen wie wirklich aus und warfen grellblaue Schatten. Er zielte mit Schneeballen nach ihnen. Dann ging er hin und putzte umständlich und vor sich hinmurmelnd ihre Flügel und die staubigen Gewänder. „Ihr seid aber hübsch!“, sagte er beinahe zärtlich, und er lachte sie zutraulich an.

Plötzlich hörte er Stimmen. Es war noch so viel Zeit, daß er in den Wald hinter einen Baum flüchten konnte. Keuchend stand er still und blickte hinab. Es waren keine Bauern, sondern kleine Mädchen mit dotterblumengelbem Haar und verrutschten Kopftüchern. Sie sahen sich in der Gegend um und zeigten auf die Dächer der Häuser. Von hier waren die nicht! Sie hatten die Engel bis jetzt nicht bemerkt. Die Kleinen mußten einen weiten Weg hinter sich haben, sie setzten sich auf die Baumstämme. „Jetzt tun wir rasten“, sagte die Ältere, und sie schob das Kopftuch ganz hinunter. „Magst noch ein Brot?“

„Ich mag eins!“

Sie streckten die Beine von sich, ganz wie es vorhin der Vagabund getan; ihr Schuhwerk war nicht das beste, und die Strümpfe waren aus harter, grauer Wolle.

„Geht lieber weiter!“ knurrte Franz oben bei seinem Baum. Aber die beiden kleinen Mädchen plauderten, sie wurden ein wenig lebhafter, knöpften die rauhen Janker auf und blickten kein einziges Mal empor, sonst hätten sie die Engel entdeckt. Sie zwinkerten in die Sonne, ihre vergißmeinnichtfarbenen Schatten bewegten sich unruhig auf der Mauer. Die Sonne schien nun um die Mittagszeit aus einem tiefblauen Himmel. Vom Dach begann es zu tropfen, zuerst langsam, dann eiliger und schließlich weh'-' ten gedrehte Silberschnüre weit hinaus.

Ingrimmig stellte Franz fest, daß die Kinder eingeschlafen waren. Wenn er nun hinunterschlich über die Wiesen und die Engel holte? Ein Wagnis! Er machte ein Nickerchen, geborgen hinter einem Hügel, der mit frischgrünem zartem Zinnkraut bestanden war. Plötzlich erwachte er mit Frösteln, sofort hellwach spähte er zu der Kapelle hinab. Nebel, zackig und in Fetzen, umschleierte alles. Die beiden Mädchen saßen nicht mehr auf dem Holzstoß. Da öffnete sich die Kapellentür mit einem Fauchen und Kreischen und die Kleinen traten heraus. Nun hatten sie die Wiese in ihrem Blickfeld, auf der die Engel standen! Da gab's auch schon einen Schrei! Die Ältere hatte den Finger ausgestreckt, und sie legte den Kopf gegen die Schulter der anderen, als wollte sie schauernd und sich fürchtend ihr Antlitz verbergen. Die Jüngere war mit ihren Blicken dem ausgestreckten Zeigefinger gefolgt, und nun schrie auch sie auf, und beide verharrten sie, aneinandergeschmiegt, die Augen weit geöffnet, auf einen Punkt gerichtet. Dort standen die Engel, bis zu den Knien im Schnee.

Nachdem die kleinen Mädchen eine Weile Tegungslos so blieben und sich nichts an ihnen rührte außer dem gelben Haar, das aus ihren Stirnen wehte, knieten sie auf einmal nieder. Sie knieten in ihren langen, nußfarbenen Kitteln, während der Vagabund oben sehen konnte, wie ihre ganz hell gewordenen Gesichter sich langsam mit Apfelröte bedeckten. Die Ohren glühten, und die Hände lagen, nach oben spitz zulaufend, aneinandergeschmiegt, an die Brust gepreßt. Im Laufe der Minuten hoben sie sich höher, immer höher, beschwörend, flehend; nun waren sie flatternde Blätter im Wind. Die Lippen bebten, öffneten sich dann und zuckten im Gebet.

Franz hatte das alles zuerst erheitert. Er grinste, wahrend doch schon aus dem rohen Grinsen stockendes Staunen wurde, bis er unwillkürlich die Bewegungen der Kinderlippen nachahmte, dieses sanfte Öffnen und Schließen; wie ein Hungriger, der anderen beim Essen zuzieht. Dann lachte er, er lachte, verborgen in seinem Versteck. Er versuchte das Ganze komisch zu finden. Es war doch närrisch, daß die Kinder dort unten die Hölzengel für wirkliche

Engel hielten! Wirkliche Engel — das mußte man sich vorstellen! Die vom Himmel gekommen waren, um heute ...

Sein Grinsen durchzuckte noch einmal das lehmfarbene Gesicht, um plötzlich zu stocken, so daß die Falten in seinem Antlitz durcheinandergerieten. Er redete sich ein, daß ihm das ganze Schauspiel langweilig wurde. Die Dummheit ekelte ihn an. Er schob den Hut nach vorn bis zu den Brauen. Am liebsten hätte er die dort unten verscheucht wie Hühner, mit Gekreische und Händeklatschen. Die Haut begann zu jucken. So viel Unverstand! Warum gingen sie nicht näher, die Kinder, um sich zu überzeugen, ob das wirkliche Engel waren? Warum blieben sie immer in der gleichen Stellung, ohne zu sprechen und ohne sich miteinander zu verständigen! Was für dumme, kleine Geschöpfe! Nun ist's aber genug. Steht auf und geht endlich zu eurer Muhme oder zu der Großmutter! Blendend grau fielen die Schneesteme auf's zartbebende Zinnkraut. Wahrscheinlich bebten die Kleinen ebenso. Franz hatte grämliche Lust, hinter dem Hügel verborgen, die Stimme eines Engels nachzuahmen. Leise formte er die Worte, raunend erhoben sie sich: „Heute widerfährt euch Heil, denn...Er preßte die Lippen aufeinander, unsinnig begann die Haut zu jucken, als hätte man tausende Ameisen auf ihn losgelassen. Es hielt ihn einfach nicht mehr in dem Versteck. Er mußte aufspringen und um sich schlagen.

Den Kindern stockten die Gebetsworte auf den Lippen. Sie drückten die Köpfe aneinander, und dann ergriffen sie die Flucht. Sie sahen den riesigen Schatten des Mannes dort oben, und in Verbindung mit den Engel hielten sie ihn gewiß für Satan. Franz blickte ihnen nach. Sein Groll verflog, als der Nebel die beiden Kleinen verschluckt hatte, stapfte er unlustig abwärts, bis er vor den Engeln stand. „Zurück mit euch! Marsch in die Kapelle! Ich mag euch nicht mehr sehen!“ Alle drei konnte er nicht packen, da nahm er nur zwei. Der Große blieb allein zurück in dem eintönigen Flockengeriesel, im stäubenden Schnee, der auf seinen gelben Lokken ein Dach bildete, unter dem er beinahe verschmitzt lächelnd hervorsah. „Na, dir ist's heut' gut gegangen! Für wirklich gehalten zu werden, das möcht' dir so passen! Wie schwer du bist — ah, dich trag' ich nicht übern Berg, dich nicht!“

Er stellte sie alle drei wieder auf den Altar, die frischen Farben leuchteten, Schneeflocken zergingen auf ihren Wangen. Ungerührt sah er ihnen in die Gesichter; in der Kapelle war es dunkel. Doch irgend etwas blendete ihn ...

Eduard C. Heinisch

ENTGEGNUNG

Es ist unwahr, dafj uns der Flitter genügt, die Flasche unterm Baum und das Lächeln der Nachbarin.

I

Unwahr ist, dafj wir die Herzen mit Schallplatten stillen und grüben per Drucksache. Unrichtig ist temer, dafj wir die eisernen Masken nicht abnehmen am grofjen

Heiligen Abend der Erde. Es ist auch unwahr, dafj wir den Hunger nicht kennen, weil wir wählerisch sind und satt übers Mafj.

Wahr ist vielmehr, dafj wir gegen die Trauer trinken und gegen die Einsamkeit grüfjen und hilflos und machtlos taumeln.

Es ist wahr, dafj wir allein sind im überflufj, unter der Last unserer Sehnsucht, nackt und verschämt vor der Krippe.

Es ist auch wahr, dafj wir ehrlich die Hand ausstrecken in die Weite der Nacht, die Hqnd des Bruders zu fassen.

Und es ist wahr, dafj wir sie nicht erreichen, weil eine Nacht nicht genügt, eine einzige Nacht unter Nächten!

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