Chlebnikov - © Foto: imago / Heritage Images (Bildbearbeitung: Rainer Messerklinger)

Velimir Chlebnikov: Der Vorsitzende des Erdballs

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Als Mitbegründer des russischen Futurismus träumte Velimir Chlebnikov (1885‒1922) von einer radikalen poetischen Erneuerung der Sprache. Eine Neuauflage seines Werks gibt tiefe Einblicke in sein dichterisches Schaffen.

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Als Mitbegründer des russischen Futurismus träumte Velimir Chlebnikov (1885‒1922) von einer radikalen poetischen Erneuerung der Sprache. Eine Neuauflage seines Werks gibt tiefe Einblicke in sein dichterisches Schaffen.

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Es gibt Dichter, die in ihrem eigenen Sprachraum eine große Bedeutung haben, aber außerhalb dem Namen nach, doch kaum dem Werk nach bekannt sind. So verhält es sich auch mit Velimir Chlebnikov (1885–1922), der bei uns eine noch unbekanntere Größe wäre, hätte nicht Peter Urban (1941–2013) unter Beteiligung vieler Übersetzer eine Werkausgabe Chlebnikovs herausgegeben, die 1972 und 1985 bei Rowohlt erschienen ist; eine Leistung, die aber immer wieder erneuert werden muss, sodass es sehr erfreulich ist, dass Suhrkamp diese Ausgabe mit kleinen, aber wesentlichen Ergänzungen neu aufgelegt hat. Chlebnikovs Werk ist nicht nur sehr heterogen, überbordend, ungewöhnlich und auf den ersten (bis zweiten, dritten, vierten, bis das Auge sich daran gewöhnt hat) Blick überfordernd, sondern stellt die Übersetzer auch vor große Herausforderungen.

Was ist an ihm jedoch so besonders? Schon der selbstgewählte Vorname von Velimir (gebürtig: Victor) Chlebnikov weist auf einen charakteristischen Aspekt seines Schaffens hin: die Freilegung älterer oder paralleler Sprachschichten (Velimir ist ein südslawischer Name) und deren Nutzbarmachung für Sprachspiel und Spracharbeit (was letztlich dasselbe ist). Der große Semiotiker Roman Jakobson hat gesagt, Chlebnikov sei „Hellsicht über Verbindung und Bruch der Zeiten in der menschlichen Rede mit ihren unablässigen Verwandlungen des unsinnigen Feldes ins sinnvolle“ gegeben gewesen. Chlebnikovs Achtung vor der Eigengesetzlichkeit der Sprache sorgt dafür, dass die neu gebildeten Wörter in der Regel intuitiv gut zugänglich sind; wenn man ein Wort bei ihm gar nicht versteht, ist es sehr wahrscheinlich, dass man es in einem Wörterbuch, das auch seltene, z. B. nur regional gebräuchliche Wörter enthält, finden wird. Chlebnikov hatte eine Fülle an Ideen, was es unmöglich macht, eine simple Formel für die Lektüre oder die Übersetzung seiner Texte aufzustellen. Er war eine sehr unstete Natur, immer wieder auf Wanderschaft, immer wieder mit neuen Einfällen. Häufig nahm er ein bestimmtes Wort und ließ aus dessen Stamm neue Triebe wachsen. Vladimir Majakovskij, Chlebnikovs Weggefährte im russischen Futurismus, erinnert sich in seinem von großer Verehrung zeugenden Nachruf, dass Chlebnikov einmal „sechs Druckseiten geschrieben“ habe, „nur von der Wurzel ‚lieb-‘ abgeleitet“. Diese hätten nicht gedruckt werden können, „weil in der Provinzsetzerei das ‚l‘ nicht reichte“ – das damalige Druckverfahren mit beweglichen Lettern hatte mit Chlebnikovs Poetik seine liebe Not.

Gegen Klassiker der Literatur

Chlebnikov war zu vielschichtig, als dass man sein Schaffen einfach unter den Futurismus subsumieren könnte, dessen Vertreter er auch war. Er propagierte zwar mit den Futuristen, die Klassiker „vom Dampfer der Gegenwart zu stürzen“, griff aber auch die Werke von Puschkin und Co. in seinem Schreiben auf – die futuristische Épatage war das eine, die poetische Praxis das andere. „Im Werk von Tolstoj, Puškin und Dostojevskij trägt das Wort Entwicklung, ehemals Blüte bei Karamzin, bereits fette Sinnfrüchte“, heißt es in einem kurzen Text im zweiten Teil („Prosa Schriften Briefe“) der Werkausgabe. Überhaupt interessierte er sich für alle Kulturen und träumte von einer universellen Sprache, die alle Völker der Erde verbinden würde. Häufig erinnert man sich daran, dass er sich als „Vorsitzender des Erdballs“ bezeichnete, und meistens wird das als bloße Schrulle eines Genies nicht ohne Wahnsinn abgetan; wenige wissen, dass das zu seinem Konzept einer „Weltregierung“ aus vielen „Vorsitzenden des Erdballs“ gehörte, die ein Zeitalter des Friedens einläuten sollten. Dieses existiert leider noch immer nicht, aber Chlebnikovs „Weltregierung“ lässt sich als Vorläufer späterer Bemühungen, etwa der Vereinten Nationen, verstehen.

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