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Verantwortung am Volk

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Neun Uhr abends auf einer Vorortelinie der Wiener Stadtbahn. Es wimmelt von übermütigen, sich lebhaft unterhaltenden ausländischen Soldaten. Nahezu jeder hat ein Mädel am Arm. Wir sind diese traurigen Bilder schon nahezu so gewöhnt wie die Ruinen an unseren Straßen! Sind alle diese traurigen Geschöpfe denn mutterlos, ist denn niemand da, dem um ihre Zukunft bange ist, der die Verantwortung um sie trägt? Haben sie keine Mütter, die sich um sie sorgen, um ihre Kinder bangen und ringen? Oder stehen die Mütter wirklich machtlos dem leichtfertigen Genußdrang der Töchter gegenüber? Liegt es an ihrer seichten moralischen Erziehung, liegt es an machtvollen Einflüssen verdorbener Umwelt? Sicherlich, noch jeder große Krieg brachte moralischen Verfall mit sich. Aber doch nur in jene Masse, die des innerlichen Haltes entbehrt, die ohne jeden Schutzwall ist, der Himmel und Hölle trennt.

Da fallt mein Bick plötzlich — während mich viele unbeantwortete Fragen bedrängen — auf ein etwa 15jähriges schmächtiges Mädel, wie es müde am Arme eines Soldaten lehnt. Traurig starren die Augen ins Leere ... uralt, wissend und hoffnungslos. Auf den noch kindlichen Lippen zeichnet sich bereits eine harte Linie ein. Keine jugendliche Helle überschimmert mehr dieses Kinderantlitz, nicht einmal eine augenblickliche Freude.

Zutiefst ergriffen, erschüttert, möchte ich sein Schicksal aus diesen Zügen lesen. Wer weiß, unter welchen Umständen dieses Kind in die schreckliche Mühle geriet, in der es zermah-len werden wird. Durch wessen Schuld kein Führer an seinem Wege stand, als es in die Irre ging? Der Überdruß, der Ekel in seinem Antlitz zeugt doch von einem letzten Er* kennen eines unersetzbaren Verlustes, von der Ahnung eines namenlosen Unglücks. Spürte das Mädel plötzlich mein Suchen und Tasten? Fragend richtete es seine Augen auf mich, dann senkte es mit dem immer gleichen traurigen Ausdruck seine Lider und schüttelte leise, hoffnungslos, den dunklen Lockenkopf Da hält der Zug an; lärmend drängen die Fahrgäste ins Freie. Auch das arme jCind geht mit seinem Soldaten. Künstlich und ge-i quält dringt mir sein Lachen ins Ohr...

Ich höre es immer noch, dieses gequälte Lachen: Wie billig ist euer Mitleid, da tragen wir noch eure Verachtung lieber, denn sie ist echter! Ihr alle, ihr seid nicht ohne Schuld an unserem Schicksal! Ihr zieht euch in die stille Umfriedung eurer eigenen vier Wände zurück, verschanzt euch hinter Gütern, die uns vielleicht nicht von sorgenden Eltern gegeben wurden, und dort verschließt ihr euch vor der Not des Mitmenschen, Ihr wollt gar nicht an die Ungezählten denken, deren Seelen in Gefahr sind, unterzugehen, geschweige denn, daß ihr helfen wollt... Ihr seid mit dem Leben zufrieden, soferne ihr selbst euch in Sicherheit fühlt. Ihr nennt euch „Christen“! Und habt dodi das zweite Hauptgebot noch nicht begriffen! Ihr meint wirklich, eure friedlichen und frommen Gedanken aus eurem umhegten und umsorgten Dasein werden die “Waagschale der höchsten Gerechtigkeit so ganz tief drücken, wie ihr es euch wünschen mögt. Und doch ist Gottes Gebot so gemeint, daß wir mit der Liebe zum Nächsten auch die Verantwortung für ihn spüren müssen. So bequem und leicht ist das Christsein nicht gedacht, daß man aus der eigenen sicheren Umfriedung her die Gebote befolgt, die Gebote gegen die eigene Person, daß man aber das Gebot gegen den Nächsten, die liebende Gemeinschaft mit den Mitbrüdern und Mitschwestern, ablehnt.

Es ist wahr, wir können uns nicht freisprechen davon und sagen: „Was können wir denn schon dagegen tun?“ Haben wir's denn schon versucht? Sicher — die Anschuldigung trifft kaum den einzelnen Menschen, sie trifft die Gesamtheit. Eine Einzelmission kann vielleicht vereinzelte Erfolge zeitigen. Gegen eine große Gefahr aber muß die große Gemeinschaft sich bereitstellen. Es ist gar nicht so schwer! Ich denke mir, daß es möglich sein müßte, in jeder Pfarre eine ausreichende Anzahl solcher Frauen — auch Männer, denn es geht auch um die männliche Jugend —•, die ihr Christentum zu verwirklichen bereit sind, für einen Laienhelferdienst zu interessieren, zu schulen und für unseres Volkes Zukunft einzusetzen. Um diese geht es letztlich genau so wie um die Verantwortung für jede einzelne Seele. Wie viele jener Mädchen, die Leib und Seele wegwerfen, werden unserem Volke schließlich noch gesunde Kinder schenken können?

Es gibt vielerlei Wege, auf denen man solchen jungen Menschen, die in Gefahr sind oder in eine solche kommen könnten, begegnen kann. Es wird aber stets ein Mühen, ein Ringen um jede einzelne Seele sein. Und da deren viele sind, ja — immer noch mehr zu werden drohen, bedarf es vieler und mutiger Helfer. Die Arbeit kann praktisch nicht allein Sache eines Seelsorgers sein. Hausmelder und Laienhelfer müßten unter der Leitung einer psychologisch geschulten Persönlichkeit in guter Organisation zusammenarbeiten, um den jungen Menschen vorerst einmal auf seinem Irrweg anzuhalten und dem christlichen Arzte zurückzuleiten, Wegweiser zu sein auf dem Scheideweg. Die richtige Weiterlenkung wird sich aus der individuellen Behandlung und aus der Einsatzfreudigkeit taktvoller Helferinnen ergeben. Nur die vorsichtigste Kleinarbeit an jeder einzelnen Seele ist erfolgversprechend, und diese muß der Initiative und Einsicht vorbehalten sein. Jede Arbeitsgemeinschaft wird sich vor allem nach ihren Möglichkeiten zu richten haben. Das wichtigste Rüstzeug wird die richtige Erkenntnis sein, das Spüren der inneren Verantwortung für den Mitmenschen und der gute Wille zum Handeln. Wichtig wird in erster Linie die prophylaktische Arbeit sein, die verhütend bei dem noch innerlich gesunden Menschen einzusetzen hat. Sie wird sich nicht zuletzt an die Mütter und ihr Verantwortungsbewußtsein für die eigenen Kinder zu wenden haben. Aus tiefen seelischen Wunden blutet unser Volkstum. Sie sind gefährlicher als jene, die auf den Schlachtfeldern geschlagen wurden. Zu Samariterdienst sind wir aufgerufen.

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