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Verantwortung vor dem Werk

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Durch verschiedene Einflüsse, durch Einwirkung einzclnor, durch eine bewußtere und theoretisch mehr festgelegte Art. der Musik der Vergangenheit (die ja ihrerseits euch In immer größere Ferne rockt) zu begegnen, lerncr durch des technische Denken usw. hol unser Musizieren begonnen, eine Wandlung durchzumachen. Man mufJ sich dabei natürlich vor zu groBcn Verallgemeinerungen hüten; nicht das Musikleben im ganten und nicht In allen Ländern gleicherweise wandelt sich, aber immerhin ein Teil, der mit dem Anspruch auftritt, ein wesentlicher, ein führender Teil tu sein. Auch erstreckt sich diese Wandlung nicht auf alte Literatur mit derselben SUrke. Am meisten von ihr betroffen wird zweifellos die sogenannte ..klassische” Musik. Diese klasslscho Musik ist nun aber nicht nur Irgendein beliebiger Teil der Weltliteratur. Es ist die Musik, bei der Architektur und Ausdruck, Form und Leben am engslon ineinander greifen, die die gröOlo Formstrenge mit der größten Natürlichkeit vorbindet) bei der gleichsam Architektur Ausdruck und Ausdruck Architektur geworden ist. Es war kein Zufall, dafl Wagner, als er anfing, sich um Darstcllungn-fragen zu kümmern, sich ausschließlich mit einer Musik beschäftigte, die schon damals ein Monschonalte'r und mehr zurücklag — eben der Musik dieser Klassiker einschließlich Beethovens —, anstatt mit der Musik seiner eigenen Zelt. Oerade an Ihm aber können wir ablesen, wie sehr wir uns inzwischen gewandelt haben. Sind uns die Interpret'-tionsfregan, über die ar In 'einen Schriften (besonders mit Bezug auf Beethoven-•che Symphonien) schreibt, Oberhaupt noch wichtig? Haben diese Fragen für uns heute noch irgendwelche Aktualität? Nahmen wir — um es ganz deutlich und dürr herauszusagen — diese ganze klassische Musik — wozu dann auch noch Bach und die späteren, Brehms usw., gehören — überhaupt noch ganz ernst?

Verantwortung vor dem Werk

Von Wilhelm Furtwängler

'Jkers Ober Konzerte in Hollywood, daß grobe klassische Symphonien in Amerika heute „veraltet” seien-und nicht mehr wie früher im Mittelpunkt des Publikums-interosses standen. Nur „wisse” das Publikum dies noch nicht

Diese Beobachtung ist richtig — auch wir wissen es nach nicht, daft dem so ist. Der Grund dafür liegt weder in dieser Musik, noch in uns, sondern in den Aufführungen, die wir van Ihr machen. Die Aufführungen wandeln sich und mit Ihnen allerdings dann auch unser Verhältnis tu dieser Musik.

Es Ist nicht ganz leicht, sich Ober diese Dinge klar zu werden. Nehmen wir einmal eine Grammophonpiatie zur Hand, möglichst von einem elnlachon Werk, das keine besonderen Probleme bietet: etwa Mozarts „Kleine Nachtmusik”. Es Ist eine Platte, die geeignet ist. das Durchsdtnlttsmiisizieren von heute tu repräsentieren: als modernes Grammophonerzeugnis eine gute Platte, aber auch vom Sundpunkt des Musikers aus einwandfrei. Eine Darstellung: vernünftig, natürlich, gleicherweise der Tradition entsprechend wie den Anforderungen des Notentextes.

Und zunächst wird auch joder Hörer darüber erfreut sein, wie selbstverständlich sich alles vollzieht, wie klar und deutlich jede Mlttelslimme tu hören Ist usw. Er wird die Aufführungen als gelungenes Beispiel einer bis Int letzte korrekten Darstellung betrachten, 'in Mutterbeispiel werkgetreuer Wiedergabe. Was aber ist es, das — wenn wir uns genau prüfen — dennoch dieser Darstellung Jenen Hauch von Kälte, verbunden mit einer aufdringlich prallen Selbstverständlichkeit, ja Selbstzufriedenheit verleiht? Warum mutet uns die Klarhalt des Details auf einmal hier so unbarmherzig an? Wo ist das Geheimnis, der Zauber des lieblichen Werket geblieben? Ich bemerke ausdrücklich: auch der kritischeste Hörer könnte an der Platte direkt nichts aussetzen. Es ist keine Einzelheit, die tu bemängeln wäre; und doch scheint für die, die das Werk kennen und Hoben, Irgendwo am „Ganzen” etwas tu fehlen)

Und nun kommt das grolle Geständnis, das jeder Hörer, der den Mut dazu besitzt, vor sich selbst oder anderen machen wird: die Platte itl vorzüglich, gewiß, und Mozart ist ein großer Meister, aber — ist sie nicht etwas langweilig? Geht uns diese Musik noch etwas an? Ist sio nicht ganz und gar Vergangenheit?!

Was Ich hier schildere, werden vor diesem oder jenem Musikstück, vor dieser oder jener Grammophonplatte, bewußt oder unbewußt, immer wieder Menschen von Sensibilität und lebendigem Gefühl erleben. Ich sage damit gewiß nicht, daß alle Platten so sind oder so sein müssen: viele gibt es, dienet architektonisch schwierigeren Werken — unendlich schlechter sind und doch infolgo Ihrer technischen Makellosigkeit akzeptiert werden. Ich nehme dies Beispiel hier gerade als charakteristisch für das, was man sieh heute im Durchschnitt unter „gutem Musizieren” vorstellt. Die Piatie ist pUllengercchL abgerundet, das Werk ist In jedem Teil vollkommen klar, das Gante vernünftig disponiert und durchgeführt. Und dennoch fehlt durchaus das Jauchzen des Schöpferischen, der Zauber des Abenteuers, die Lust des Lebens. Trott aller Vollendung liegt et wie ein Hauch von grauer Freudlosigkeit Ober dem Ganzen, and wenn wir genauer hinhören, bemerken wir auch die Elseskälte, die all diese Perfektion begleitet. Auch für uns Ist Sauberkeit In den Details, Präzision des Zusammenspiels Voraussetzung jedes Musizierens. Erscheint et jetzt aber nicht, als ob die Musik Im selben Maß', als sie technisch vollendeter wird, immer Inhaltsloser, wenn man so will immer überflüssiger tu werden scheint?! Es Ist, als ob Ihr ein bestimmter Stoff fehle, den sie früher besaß. Man mochte sie vergleichen mit jenen Konserven, die In schönen Glasern In herrlichen Farben leuchten, fabelhaft autsehen und doch nicht schmecken, bei denen die Verpackung wunderbar, dor Inhalt aber enttäuschend ist. Et Ist als ob dieser Art Musik die eigentlichen Vitamine, die ein Nahrungsmittel erst vollwertig und lebensfördernd machen, fehlen, obwohl dabei — oftmals mit viel Raffinement — auf alle möglichen Getdunacktbedjurf-nlsse Rücksicht genommen wird.

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