VERDICHTETE FORMEN DER WELTANEIGNUNG

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FEINSINNIGE, BILDREICHE UND EXPERIMENTELLE LYRISCHE TEXTE SCHENKT DIESER BÜCHERHERBST.

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FEINSINNIGE, BILDREICHE UND EXPERIMENTELLE LYRISCHE TEXTE SCHENKT DIESER BÜCHERHERBST.

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Ruth Klüger hat in ihrem Band "Zerreißproben" (Zsolnay 2013) auf die Bedeutung von Gedichten für ihr Leben aufmerksam gemacht. Nicht nur das eigene Schreiben, sondern auch der Schatz an Lyrik, den sie in sich trägt, hätten "ihr geholfen", den Holocaust "zu überleben". Die elementare Rolle, die sie der Lyrik zuschreibt, ist aus ihrer persönlichen Lebenssituation heraus zu verstehen: "Prosa verschleißt sich, will sagen, wird vergessen, Lyrik ist unverrückbar."

In ihren Gedanken darüber, was ein Gedicht generell leisten kann, spricht sie offen die Schwierigkeiten an. Wie kann man sich ihm nähern, Sinn abverlangen, die Sprache auf sich wirken lassen, ja ihm gerecht werden? All das trifft den Kern. Denn Lyrik zu lesen, erfordert auf jeden Fall ein bedingungsloses Sich-Einlassen auf den Text, ein Herausfallen aus der Zeit. Den Mehrwert lyrischer Sprache hat Franz Koppe einmal sehr eindringlich an Mörikes "Septembermorgen" demonstriert, als er mit der Eliminierung poetischer Sprache das Gedicht als simplen Wetterbericht entlarvt hat.

Lyrik ist heute am kaum mehr überschaubaren Literaturmarkt zu einem Nischenprodukt geworden. Dennoch versuchen einige Verlage, dem Gedicht Rechnung zu tragen, selbst wenn es sich nicht rentiert. Im Feuilleton präsentiert man lyrische Häppchen für Interessierte. 1999 hat Jörg Drews geschrieben, dass "die Übermacht des Politisch-Gesellschaftlichen" die Lyrik in den 1970er- und 1980er-Jahren dezidiert bedroht habe. Jandl, Mayröcker oder Wühr hätten durchgehalten und das Genre weiterentwickelt. Besonders die Jüngeren hätten dann die "Materialität von Sprache" miteinbezogen. Wirft man einen Blick auf die lyrischen Neuerscheinungen in Österreich, so zeigt sich ein sehr heterogenes Bild, in dem sich eine innovative, oft radikale und verdichtete Form der Weltaneignung manifestiert.

Stimmungsbilder und Erinnerungen

Evelyn Schlag zeigt in ihrer "Verlangsamten Raserei" scharf konturierte lyrische Aufnahmen in acht thematischen Feldern. Sie gleichen Stimmungsbildern, Reisegemälden, Augenblickswahrnehmungen, die sich auch aus Erinnerungen speisen. Schlag präsentiert dabei oft eine gewagte impulsive Metaphorik: Da ist ein "verwirrtes /ziegengärtchen","bloßgestellt hinter / dem schütteren laub"."haarnetze aus stahl" sind überwuchert von den "blutroten händen" des "zornige[n] weins". Interessant ist die Entwicklung einer Heranwachsenden, deren Erinnerungsweg über verschiedene Zöpfe verläuft. Hinein in diese Gedankensplitter kerbt sie Politisches, Historisches, den Ersten Weltkrieg, in dem der Vater seine Hand verloren hat, oder auch Alltagswahrnehmungen: "stadthyänen" treten, verletzen und rauben: "gelbe /jacken voll security umrunden tatenlos die /szene. Ihr vertrag verbietet /jede art von eingriff." Augenblicke des Schmerzes, das Einfühlen in die Fremde tariert Schlag in vielstimmigen Bildern aus. Oft sind es gewöhnliche Erfahrungen, die sie in kühne Bilder gießt und in denen Atmosphäre zu stiller Poesie kondensiert.

Isabella Breier experimentiert in ihrem Gedichtband "Anfang von etwas" mit schräger Metaphorik und präsentiert durch ungewöhnliche und originelle Wortfolgen neue lyrische Impulse, indem sie der poetischen Sprechweise eine innovative Semantik einschreibt: "vorsichtige Tage /im Angesicht / des herzallerliebsten Worts / übe ich /Silben schlucken /ohne buchstäblich /zuzubeißen". Neue Zugänge zur Lyrik zeigen sich in bisweilen konstellativen Anordnungen oder in ihrer Hinwendung zu sprachlicher Feldforschung. Dabei arbeitet sie Phrasen, Gehörtes, in der Straßenbahn Aufgeschnapptes samt differenzierter Soziolekte in ihre Lyrik ein. Irgendwo zwischen "Wolfswörtern", "kuscheligen Sätzen" und "Kokossilben" heißt es dann: "ich /lad mich ... auf königliche Kutsche, / die bricht Höhe erstes Tor /in wiehernde Silben, / die flimmern und fliegen am höchsten, / dem Sonnendrachen /die knusprige Kruste zu stehlen".

Seit vielen Jahren publiziert auch der Südtiroler Sepp Mall immer wieder Lyrik. Mit dem Titel seines jüngsten, bei Haymon erschienenen Bandes zitiert er Eichendorffs "Wünschelrute". Um "frühe Landschaften" geht es, um Erinnerungen, die sich im Jetzt präsentieren und in die sich Vanitas-Motivik mischt: ": Im Traumbild siehst du den Schnitter vorwärtsziehn /spürst wie /jeder Stängel sich wehrt und trotzdem /fällt /so als wär die Vergeblichkeit /: ihm eingeschriebn". Liebe ("im Herzspiel /geänderte Codes"), Sentimentalitäten, die Sprache oder die Flüchtlingsproblematik vor Lampedusa sind Themen seiner ausdrucksstarken Lyrik, in der Interpunktion, Prosaduktus, Verknappungen und Wortbrüche den Inhalt unterstreichen. Eine Litanei unterminiert er mit alphabetisch angeordneten Nomen, die scheinbar willkürlich und spielerisch zusammengefügt zu einem neuen Ganzen kompiliert werden. Auf diese Weise kreiert er reduzierte und feinsinnige Bildräume von besonderem Nachhall.

Artifizielle Lyrik und Sprachspiele

Julian Schutting legt in seinem Gedichtband "Der Schwan"(Jung und Jung) traditionelle thematische Fährten. Den Kern seiner elegisch angehauchten, artifiziellen Lyrik bilden Liebe, Vereinigung, Naturerfahrungen, Verslehre und Rhythmus. Wie bereits in seiner Prosa "Die Liebe eines Dichters" geht es auch hier um Rituale der Sehnsucht. Die Zwiegespräche eines schnäbelnden Schwanenpaars samt Reminiszenz an "Baudelaires Schwan", die Verquickung mit der griechischen Mythologie, hehre Verse oder feinsinnige Wortspiele, aber auch mehrdeutige Imaginationen lassen Schuttings Gedichte bisweilen zu einem Metatext über Lyrik werden: "... wie aber wäre, / um die dem Mississippi angedichteten Freiheiten /zu erlangen, die Sprache von ihrem Sprachfluss / wie Gefesselte loszubinden, wenn doch selbst die /wechselnde Folge von betonten und unbetonten Silben /der ungebundenen Rede absichtslos freie Rhythmen ergibt?" Und dann ist da der Fokus "Konjunktiv", mit dem Schutting innovative Möglichkeits-und Traumräume generiert.

Einen völlig anderen Zugang wählt Christian Steinbacher, der bereits seine ersten Impulse von der experimentellen Poesie bekommen hat. Sein Lyrikband "Tief sind wir gestapelt" "mit Bezugsquellen von Jacob Balde /Max Wehrli und Wischungen von Josef Bauer" macht deutlich, dass Gedichte mehr sein können als mit Bedeutung aufgeladene Verse. Mit Konstellationen, Anagrammfolgen, Gedichtumschriften, Sprachspielen, Zitaten von Schriftstellern oder aus der Bibel, die er lyrisch kommentiert, entwirft er eine interessante und eindringliche "Sprach-Bild-Welt".

Eine neue Annäherung an die Wirklichkeit und das Leben fordert dazu auf, sich auf ihren Reiz einzulassen: "Hört ihr's? Eure Tugend, sie riecht ganz schrecklich nach /Zwiebeln".

verlangsamte raserei

Gedichte von Evelyn Schlag

Zsolnay 2014 118 S., geb. € 17,40

Anfang von etwas

Lyrik von Isabella Breier

Berger 2014 64 S., kart., € 16,50

Tief sind wir gestapelt

Gedichte von Christian Steinbacher

Czernin 2014 76 S., geb., € 19,90

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