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Verfall — ohne Ende?

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Die Geheimprostitution hat sich diesen Sommer in den westlichen Bundesländern so weit ausgedehnt und um gewisse Brennpunkte — des Fremdenverkehrs wie der Besatzungsstreitkräfte — konzentriert, daß sich die militärische Führung der US-Truppen genötigt fühlte, dagegen Maßnahmen zu ergreifen. Die katholische Kirche wurde zur Mitarbeit bei diesem Feldzug gegen öffentliche Unsittlichkeit aufgerufen. Das ist ein bedeutsamer Fortschritt gegenüber der Abweisung, die uns 1946/47 von Seiten der Militärbehörden auf präzise Vorschläge zuteil wurde. Leider ist aber inzwischen in unserem eigenen Lager der Kampf gegen den sittlichen Verderb fast zum Stillstand gekommen. Manche Kreise mag es beruhigt haben, daß 1950 ein — allerdings nicht sehr wirksam gewordenes — Gesetz zum Schutze der Jugend gegen Schund und Schmutz beschlossen wurde. In den Statistiken der Sanitätsbehörden schienen die Frischinfektionen luetischer Art seit 1948 abzusinken. Neuerdings haben nun zahlreiche Sittlichkeitsverbrechen und Skandale die öffentliche Meinung aber wieder etwas aufgerüttelt, und es erhebt sich die: Frage, welche Entwicklung und Auswirkung der moralische Zusammenbruch der ersten Nachkriegszeit hatte.

Zunächst fällt eine deutliche Verschiebung . auf: die Verbreitung der Geheimprostitution, ist gewiß geringer geworden, die Angebotshysterie gegenüber Besatzungssoldaten ist zurückgegangen, es vollzieht sich eine Verlagerung weg vom Militär und hin zu Zivilausländern des Fremdenverkehrs oder zu geldkräftigen Kreisen des Inlands. Dahinter wird eine andere Entwicklung deutlich: ein beträchtlicher Teil dieser jungen Frauen ist längst nicht mehr so sehr geschlechtlich interessiert, sondern finanziell. Sie sind gefühlsleer und amoralisch geworden. Aus einer Nachkriegserscheinung ist eine regelrechte Prostitution breiten Ausmaßes geworden. Sie wird noch immer . mit Nachwuchs versorgt — einerseits aus den Schichten der früh vergreisten Mädchen, die an ihrem qualitätslosen, sinnlos gehäuften vorehelichen Geschlechtsleben innerlich zerbrachen, und andererseits aus den Kreisen der Siebzehnjährigen, namentlich aus den Kleinstädten und Märkten der Provinz, die durch Film und Lektüre und Verführung zu Abenteuern gestoßen wurden, aus denen sie keinen Ausweg mehr finden. Die breite Masse der Geheimprostituierten sinkt immer hemmungsloser ab. Sie wird kriminell. Die Diebstähle an unerfahrenen US - Soldaten mögen dazu beigetragen haben, daß sich deren Generalität zu scharfen Maßnahmen aufraffte.

Handelt es sich bei dieser Gruppe zwar immerhin um Tausende von weiblichen Personen, so doch nicht um die Mehrzahl der ehemaligen „Soldatenbräute“. Jedenfalls hat sich der größere Teil dieser Mädchen inzwischen dem Inland zugewandt und hat hier eine Atmosphäre und Praxis freier Liebe geschaffen, über deren Breite und Bedeutung sich Erzieher und Seelsorger noch nicht klargeworden sind.

Einbruch der Perversität

Zunächst konnten auf diesem Untergrund, namentlich in gewissen Magazinen, Inserate aufscheinen, wie zum Beispiel: „Junge, temperamentvolle, modern denkende Mädchen suchen interessante diskrete Freizeitgestaltung.“ Dann zuckten Nachrichten unsagbarer Verrohung auf: Rußlandheimkehrer werden auf Anstiften ihrer Ehefrauen von deren neuen Freunden umgebracht — Nebenbuhlerinnen erschlagen mit einem Holzscheit junge Bräute — Mütter überreden zu tödlichen Eingriffen an Mädchen, die ihren Heiratsplänen im Wege stehen. Schließlich wurde die Öffentlichkeit erregt durch die blutigen Sittlichkeitsverbrechen 1950 auf dem Brenner, bei Himberg, auf dem Hochkönig usw. Aber noch ist man sich in der Allgemeinheit nicht klar über das Ausmaß der organisierten Homosexualität einerseits und andererseits der Vergehen an Kindern; jede Volksmission zum Beispiel, bei der man den Dingen nachgeht, enthüllt — namentlich an Stadträndern mit Schrebergärten — Abgründe der Kinderverderbnis, die meist so ortsbekannt sind, daß sie auch polizeibekannt sein müßten, und doch ist all die Jahre nichts dagegen unternommen worden! Mit diesem Kinderleid werden nicht nur Wunden des Volkskörpers sichtbar, sondern auch leidschwere Auswirkungen der pädagogischen Unsicherheit des modernen ethischen Relativismus; dessen Vater, der Moralpositivismus, hat seine Probe unendlich schlecht bestanden.

Als der Londoner Lustmörder G. H., der neun Menschen in Schwefelsäure auflöste, vor Gericht kam, mußte im vorigen Jahr die Verhandlung wegen des Ansturms der Sensationslüsternen in die Provinz verlegt werden, wohin sofort Tausende nachströmten. Hunderte Reporter sorgten dafür, daß diese Perversität wochenlang mehr interessierte als das ganze Weltgeschehen. Der entartete Verbrecher erhielt täglich 40 bis 60 Briefe von Frauen, die ihn anhimmelten. — In dem angeblichen Dokumentarfilm „Senza pietä“ treten ganze Gruppen von weiblichen Banditen auf. Dutzende Filme stellen alles auf den Kopf: Verbrechen sind Kavaliersangelegenheiten, es gibt Chancen beim glorreichen Handwerk der Gaunereien, und der Verbrecher ist eigentlich der wahre Held!

Unter dem Zeichen des kriminellen „Helden“ wird von vornherein eine Generation gezüchtet, deren innere Welt nicht von Sagen und Märchen, von kühnen Kulturpionieren oder geschichtlichen Volkshelden belebt wird, sondern von perversen Lustmördern und erfolgreichen Bankräubern, von skrupellosen Bandenhäuptlingen und internationalen Gangstern, von bluttriefenden Politikern ganz zu schweigen. „Die Presse ist nicht dazu da“, verkündet ein Pariser Leitartikler, „Moral zu predigen, sondern um ihre Leser zu informieren.“ Und sie informiert, bringt Interviews mit Pierre-le-Fou und Giuliano und schüttet den ganzen Schmutz grauer Nachkriegsjahre über die geplagte Menschheit aus.

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