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Vergessen

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Dip Sonne brannte. Am Horizont schlei- erte vom Winde aufgetriebener Sand. Es sah aus, als galoppierten in der Ferne Berittene in Staub und Glast über die Wüste, als werde eine unentwegte Attacke geritten, von unsichtbaren Reitern gegen einen unsichtbaren Feind.

übrigens war der reale Feind ringsum auch meist unsichtbar, unbestimmt, kaum jemals zum Gefecht zu zwingen. Er war überall und nirgends, griff an aus dem Dunkel, aus dem Nebel, aus dem Sand- sturm, warf seine Bomben aus niedrigen Wolken, war unkontrollierbar und immer gefährlich. Ein ewiges Lauern lag in der Luft, im Sande, im Brüten der Hitze über der Cyrenaica. Hier wurde nicht allein gegen einen verwundbaren Gegner gekämpft, ebensosehr gegen Gespenster: gegen eine unbarmherzige Sonne, ein ungesundes Klima, gegen die Schatten von Cholera, Gelbsucht, Malaria, Ruhr, gegen Tropenwahnsinn und Heimweh.

Der Leutnant schritt vor dem Zelt des Kommandeurs auf und ab. Der Schweiß rann ihm die Schläfen hinab, über Nacken und Rücken. Er war erschöpft und ausgedörrt von zwei Jahren Krieg in den Subtropen, reduziert von der Malaria, voll Müdigkeit und Sehnsucht nach Zuhause, nach Schatten, Kühle, Süßwasser; kein Dörrgemüse mehr, keine Konserven, keine Tiefflieger, Bomber, keine Stechmücken, Skorpione, und kein ewiger Mangel an Treibstoff, Munition, Proviant. Doch es war ihm njęjjt mehr voll bewußt, daß er entbehrte und sich fortsehnte, erschöpft und verbittert war, sosehr war er das alles bereits gewöhnt, Es bedurfte keines erheblichen Aufwandes an Energie mehr, dies alles immer wieder hinzunehmen, weit weniger, als etwa sich dagegen aufzulehnen, sein klarer Blick, sein natürliches Maß waren bereits getrübt.

Plötzlich wurde der Name des Leutnants gerufen, und er wandte sich nervös und hastig um und trat eilig ins Zelt, sich bei dem Kommandeur zu melden. Dieser, in kurzen Hosen, mit aufgerollten Hemdärmeln, schwitzend und bärtig, sah ihn aus traurigen, von Sand und Sonnenhitze entzündeten Augen an, alter Offizier, wohlwollend und immer in Schwierigkeiten, die aus der Unmöglichkeit erwuchsen, Befohlenes in die Tat umzusetzen, angesichts ewiger Mängel und Unzulänglichkeiten auf einem ungewohnten Terrain, unter gänzlich vom üblichen abweichenden Bedingungen der Kriegsführung. Er nickte dem Leutnant zu. Hinter ihm der Adjutant, jung, hager, hochgewachsen, tadellose Uniform, sah mit durchdringendem Blick aus kalten Augen gleichfalls auf den Leutnant. Der Kommandeur sagte:

„Stehen Sie doch bequem, bitte. Wir haben Sie für einen besonderen Auftrag ausersehen, dessen Sie sich wahrscheinlich mit Geschick und Erfolg entledigen werden, nach allem, was uns über Sie berichtet worden ist, denn Sie wurden uns als Spezialist für Einzelstützpunktverteidigung mit Tarnung und Beobachtung genannt. Sie haben also Erfahrung, sind ja außerdem, wie ich aus den Papieren ersehe, Akademiker, zum Unterschied von so vielen heutigen jungen Offizieren, also eher geeignet… aber egal! Also bitte: Šie übernehmen einen Stützpunkt weit draußen und abseits der eigentlichen Front, die sich, wie Sie wissen, im Süden ja weitgehend auflöst, wo nur noch einige Posten, Beobachter, Patrouillen sind. Eigentlich soll es kein richtiggehender Stützpunkt sein. Sie nehmen nämlich nur zwei Mannschaftsgruppen mit guten Unterführern, Funk- und Beobachtungsgerät, machen laufend Meldungen über beobachtete Feindbewegung und dergleichen, sollten Sie von leichten Feindkräften angegriffen werden, trachten Sie, sich still zu verhalten, igeln sich ein, leisten hinhaltenden Widerstand. Es wird kaum geschehen. Sie bewaffnen sich nur leicht, nehmen etwa drei bis vier Maschinengewehre. Aufgabe Ihres Postens ist nicht kampfmäßige Sicherung, sondern, wie gesagt, Beobachtung und dadurch Abschirmung in Richtung zur Feindfront. Ich brauche laufende Meldungen über alle Vorkommnisse! Nehmen Sie nur erprobte Mannschaften und Unteroffiziere mit. Treten Sie jetzt bitte hier zur Karte, icl möchte Ihnen das Gelände zeigen. Versorgt werden Sie von uns aus.“

Der Leutnant, an der Karte, wurde eingewiesen. Er wiederholte Auftrag und Angaben, noch ein paar Worte, dann wurde er entlassen.

Im Zelt blieb der Kommandeur allein mit dem Adjutanten. Schon mit Neuem beschäftigt, verglich er Lageberichte, betrachtete Karten, Unterzeichnete Befehle. Der Adjutant sagte: „Dieser Leutnant ist zwar empfohlen worden. Mir jedoch erscheint er etwas abgekämpft, nicht so richtig schneidig, forsch und frisch.“

„Er hat hervorragende Beurteilungen“, murmelte über Karten gebeugt der Kommandeur, „außerdem ist er mehrfach ausgezeichnet worden. Ich fand seinen Eindruck durchaus positiv, übrigens kann man vorher ja niemals ganz sicher sagen…“ brach er ab.

Sieben Tage lag der Leutnant nun schon mit seinen vierzehn Leuten in seiner Stellung, die er zu einem ausgezeichneten, getarnten Beobachtungsnest hatte ausbauen lassen. Es war ein altes, zerschossenes Steingebäude, das nun jedoch nur mehr ruinenhaft inmitten einer Gruppe von Palmen ragte, die mit von Krieg und Klima mißhandelten flattrigen Blätterstengeln in einer Sandmulde wuchsen. Immer war es heiß, immer fuhr, ganz fern, der Wind in Schleiern über die Wüste.

Der Leutnant suchte oft am Tage mit dem Glase nach Süden, Südosten und Osten, aber es war nichts zu gewahren. Es war immer dasselbe: nichts bewegte, nichts ereignete sich. Manchmal sauste klagend der Wind in den Palmenkronen, und es knisterte das dürre Gesträuch am Gemäuer. Flammend zog die Sonne durch den glasigen, geweiteten Himmel dahin.

Die Leute spielten Karten, schliefen vielfach auch am Tage, trieben allerhand Unterhaltung und lasen oder schrieben. Zwei Maschinengewehrposten und zwei Beobachtungsposten sowie das Funkgerät blieben immer besetzt. Alle ein bis zwei Tage kam von rückwärts Proviant, Wasser, selten auch drei, vier Monate alte Post. Der Leutnant machte seine Meldungen, die bald sehr gleichlautend wurden, sprach mit seinen Unteroffizieren und Mannschaften, spielte Karten mit ihnen, rauchte, aß, schlief, las, schrieb, beobachtete, war am Funkgerät, überprüfte die Waffen, spähte nach einem Feind, der sich nie zeigte, der nicht vorhanden schien.

Eines Nachts entstanden Lärm und Unruhe, in der Ferne schoß Artillerie, Leuchtkugeln wurden abgefeuert, Schützenfeuer war vernehmbar. Doch der Funkdienst meldete nur kleinere Scharmützel, weit entfernt. Tagsüber überflogen jetzt mitunter englische Jagdmaschinen das gutgetarnte Versteck, ohne daß sich etwas ereignet hätte. Des Leutnants Meldungen blieben gleich. Neue Befehle gingen nicht ein. Doch jeder spürte, daß die Front brodelte, Ereignisse von großem Ausmaß deuteten sich von ferne an.

Wenig später und wieder nachts gab ‘ es Alarm, Schüsse fielen, eine schwache Feindpatrouille näherte sich dem Ver-steck so stark, daß ein Gefecht entstand. Der Leutnant verlor dabei vier seiner Leute, von denen zwei starben. Die gegnerische Gruppe hatte sich zurückgezogen, sobald sie auf energischen Widerstand gestoßen war. Die Toten und Verwundeten wurden mit den Proviantbringern nach rückwärts geschickt, und der Leutnant erhielt für sich und seine Leute ein Lob wegen des Nachtgefechtes. Er forderte Ersatz an, denn er war nun nicht mehr gefechtsstark und konnte nur noch mühsam die einzelnen Wach- und Beobachtungsplätze besetzen. Ersatz wurde angekündigt, doch kam er nicht, und auch Proviant und Wasser kamen seltener und weniger regelmäßig. Es kam jedoch ein Schreiben des Adjutanten, daß der Dienst wie bisher zu versehen sei.

Das Dröhnen der Artillerie nahm zu, Ein Mann erkrankte schwer, lag an einem frühen Morgen mit dunkelgelber Haut und stöhnend auf dem Boden, mußte nach rückwärts transportiert werden. Der Leutnant erlitt einen Fieberanfall. Aber er bestand darauf, bei seinen Leuten auszuharren.

Am Funkgerät sprachen die Sender von Belgrad und Athen von einem Rückzug der Armee. Dann versagte das Gerät, und der Leutnant sandte es mit einem Wagen und nahezu letztem Benzin nach rückwärts. Die Leute kamen nicht wieder, ohne Funkgerät war er beinahe abgeschnitten. Das Feuer der Artillerie nahm zu, ferne heulten, anschwellend und verebbend, Kampfmaschinen über die Wüste. Panzer hämmerten. Der Leutnant, sich ermannend, forderte in einem dringlichen Ansuchen Leute und Material an. Ersatz kam nicht. Er gab es auf. Er wartete auf einen Abmarschbefehl. Als auch der Proviant ausblieb, schickte er einen verläßlichen Fahrer mit einem dringlichen zweiten Schreiben zum Stab, mit dem letzten Treibstoff. Audi dieser Mann kam nicht zurück.

Das Wasser ging aus. Zwei Leute erkrankten an Ruhr. Am Maschinengewehr war nachts der Leutnant selbst, fiebernd, schlotternd, mit klappernden Zähnen. Tagsüber lag er im Sand und grübelte wirr. Man konnte sie doch nicht so hilflos, ohne Proviant und Treibstoff hier liegenlassen. Fast war es, als habe man sie hier vergessen, Ausgesetzten gleich, Der Unteroffizier verfiel in einen Anfall verwirrter Raserei und dann in fortschreitende Erschöpfung und Auflösung, Jm Zelt weinten die Ruhrkranken. Das ferne Murmeln der Artillerie verstummte, es verging das leise Gedröhn entfernter Luftgefechte. Schläfrige, tödliche Stille senkte sich herab.

Die Einsamkeit und Ereignislosicseit hatten den Leutnant dazu gebracht, Geringfügigkeiten eine seltsame und übertriebene Beachtung zu schenken, Bedeutungen beizulegen, die ihrem wirklichen Wert nicht entsprachen, sondern ihn weif übertrafen. Viele Stunden vergingen ihm in der Betrachtung seltsamer Wolkenformen, die in träger Langsamkeit selten genug am Himmel glitlen. Unter den armseligen Palmen liegend, sah er in den Wolken Antlitze und Figuren, Gebirge und Landschaften, Säulen und Gebäude von übermäßiger Pracht, Karten und Reliefs vpn den Oberflächen anderer Planeten. In seiner von Fieber, Durst und Erschöpfung entzündeten Phantasie wechselten Erinnerungen und Gedanken. Er geriet, in einen wirklichkeitsfernen Zustand, seine Teilnahmslosigkeit nahm zu.

Indessen ging die Zeit, und er bemerkte es immer weniger. Kaum, daß er noch den Wechsel der Tageszeit empfand, Im Sand lag er fiebernd und sann oder schlief. Erwachte er uud sah auf den Sand, den der leise Wind in kleinen Stößen trieb, so sah er, wie auf dem Wasser, wie kleine Sandwellen sich ringelnd wölbten, aufstiegen, mählich vergingen und neu erstanden. Dann schien es ihm, als liefen feurige Bänder kreuz und guer durch die Wüste hin. Es waren die’ ungezählten Spuren von Reitern auf Pferden arabischen Blutes und Kamelen, die hier jahrtausendelang durch die Wüste gezogen waren, in den Verbänden mächtiger Heere, als Krieger auf verwegenen, einsamen Kavalkaden oder als Räuber, Händler, Kaufleute, mit Sklaven, mit Tuch und Stoffen, Elfenbein, Gewürzen und Gold, Auch damals, und immer schon, hatte es Macht gegeben, Armeen und endloses Reiten und Marschieren durch die Wüsten der Welt, für einen Anspruch, für Dynastien, für Reiche, für ein Nichts. Auch damals waren der Hunger, der Durst, das Fieber, die Krankheit und die Pest mit den Heeren gezogen.

Er sah die zahllosen langbeinigen schwarzen Käfer, die rastlos über den Sand liefen, deren Wege nicht zu verfolgen waren, aus dem Ungewissen kommend, sich darin verlierend, sie eilten dahin, als seien sie wichtigen, ununterbrochenen Beschäftigungen unterworfen. Sie wühlten zwischen Holz und Steinen, unter Gesträuch und in leeren Konservendosen.

Gegen Abend erhob sich ein Sandsturm von ungewöhnlicher Heftigkeit. Drei Leute starben. Der Leutnant verstopfte sich Nase und Ohren, wickelte sich Tücher um den Kopf und kroch unter sein ?elt, dessen Wände flatterten. Bald darauf riß der Sturm das Zelt vom Boden, ein fliegendes, zerfetztes Segel, .fuhr es hoch durch die Luft, wurde sofort in die Schwärze der Höhe gerissen. Der Sand raste über die Wüste und klatschte peitschend gegen Gemäuer und Gestein. Durch seine heulenden Schwaden, die wie Messer schnitten, kroch der Leutnant in eine Ruinenecke zu seinen vier letzten Leuten. Dort kauerten sie, zusammengedrängt, schlotternd unter Zeltwänden und Decken, ohne Atem und zitternd vor Schwäche. Der Sturm ging über sie, Sand über sie schüttend, einen Tag und eine Nacht und noch einen Tag und noch eine Nacht und noch einen Tag. Dann war es Abend, alles still, die Luft kühl und erfrischt. Der Wind sang wieder sausend in den Zweigen der Palmen, die nun ganz zerfetzt und trostlos standen. Zwei waren entwurzelt. Doch es war Friede über der Wüste, still, ganz still. Auch in der Ecke der Ruine rührte sich nichts mehr, auch dort war es ganz still.

Das Zelt des Kommandeurs stand nun, ziemlich beschädigt nach überstürzten Rückzügen, in der Gegend von Agedabia. Der junge Adjutant mit der tadellosen Uniform, der man die Strapazen der letzten Wochen nicht ansah, trat zu dem Funktrupp, und die kalten Augen durchdringend auf den diensttuenden Feldwebel richtend, herrschte er diesen heftig an, warum er nicht erinnert worden sei, daß der Funkspruch mit dem Rückzugsbefehl an einen vorgeschobenen Beobachtungsposten keine Quittung erhalten habe. Der Feldwebel, in straffer Haltung, stand wortlos da.

Unmutig und mit einer Zurechtweisung wandte sich der Adjutant ab. Er biß sich auf die Lippen, denn der Kommandeur hatte ihn schon dreimal nach jenem Leutnant und seinen Leuten befragt. Er wußte nicht, was er sagen sollte. Er konnte doch nicht einfach melden, daß die Leute vergessen worden seien. Der Adjutant war in sehr schlechter Stimmung. Gewiß, ein bedauerliches Versehen. Aber schließlich war ja Krieg, es ging rauh zu, es ging um wichtigere Dinge, um die große Sache. Man würde einfach melden: Das Schicksal der Stützpunktbesatzung wäre unbekannt. Entscheidend wäre jedoch, daß sie alle militärischen Aufgaben voll erfüllt hätte. Das müßte dem Kommandeur doch auch genügen! Ganz leise aber regte sich im Adjutanten Unzufriedenheit, es schien ihm doch sehr billig, eine Sache so beizulegen. Schließlich waren Menschen im Stich gelassen worden, Kameraden, in einer Öde, ohne Nahrung und Hilfe, um sich nur die Wüste und den Feind.

Der Adjutant war zornig. Mit ęįngm- mal fiel ihm ein: übrigens wäre es Sache des Nachrichtenoffiziers gewesen, Sorge zu tragen, daß Nachrichtengeräte und Verbindungen funktionierten! Ęine disziplinäre Bestrafung dieses Offiziers erschien dem Adjutanten angezeigt. Es schien ihm, er könne ohnehin mehr in Schwung gebracht werden, er hatte den Eindruck, der Bursche sei nicht so richtig schneidig, forsch und frjsch!

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