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„VERHÜLLT IST JEDE GEBURT...“

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Wenn Gertrud von le Fort am 11. Oktober ihren 90. Geburtstag feiert, wird man sie vergeblich an den Stätten öffentlicher Feierlichkeiten suchen. Sie liebt es nicht, ihre private Sphäre der „schützenden Hülle der Verborgenheit“ zu entkleiden. Und wird sie einmal geehrt, so zieht sie sich bald wieder zurück. „Wie der Schleier, so ist auch das Fallen des Schleiers von tiefer Symbolik. Von hier aus werden gewisse Moden zu ungeheuren Verrätern, ja sie werden zu Bloßstellungen.“ Damit haben wir ein Charakteristikum nicht bloß des persönlichen Lebens, sondern auch der Dichtung le Forts. Wenn Malraux seinen herrlichen Kunstband „Stimmen der Stille“ genannt hat, so besitzt dieser Titel besondere Gültigkeit für die Kunst le Forts, der Form und der Aussage nach.

Um die moderne Dichtung und ihre Möglichkeit wird heute viel Lärm gemacht. Was Gütersloh einmal den Ideologen vorwirft, daß sie nämlich ein Denken ohne Denken lieben, wie man eine Uhr aufzieht, nämlich gedankenlos, ganz auf den Mechanismus des Denkens vertrauend, das kann auch auf den Mechanismus ästhetischer Funktionen gedeutet werden. Montagetechniken, kunstvolles Variieren, Parodieren und Beschreiben, „stilreiche Stillosigkeit“, wie sie heute zum offiziellen Kritiker jargon gehören, mögen sicher unterhaltsam sein, ohne Zweifel auch nützlich, doch führen sie zu oft in ein imaginäres ästhetisches Museum und versuchen alle Verpflichtungen, die dem Wort und der Sprache entspringen, zu umgehen. „Dichtung ist nicht eine Arbeit neben dem Leben, sondern eine Form des Lebens“, bekennt le Fort für ihr dichterisches Schaffen. Von hier aus bestimmt nach Gütersloh jeder Autor neu, und glaubwürdig, was seine Dichtung ist.

Die Unglaubwürdigkeit der Sprache ist genauso gefährlich wie die des Menschen. (Besonders gefährlich, wenn sie in sakrale Räume getragen wird!) Es melden sich heute schon Stimmen zu Wort, die neben der Gefahr auch die Unfruchtbarkeit solcher extremen, wenn auch modisch beliebten Standpunkte sehen (zum Beispiel Nossack, Die schwache Position der deutschen Literatur). Die Sprache weist über die hermetischen Grenzen des Sprachgebildes hinaus, in ein Bezugssystem, das unheimlich lebendig ist, in einen Wirklichkeitsbezug, der nicht abgeschnitten werden kann, sie transzendiert das ästhetische Phänomen in die Gesamtheit menschlichen Sein's und Sollens (Wehrli, Wert und Unwert in der Dichtung).

„Alles, was reifen soll, braucht langes Ruhen. Alles, was zur Tiefe drängt, braucht die Behütung eines gütigen Abseits.“ Das sind keine billigen Ressentiments oder Sentimentalitäten einer Neunzigjährigen, sondern Ergebnis „stiller Rechenschaft“, zu der ein so hohes Alter verpflichtet. An Stelle der oberflächlichen Revolutionen, in denen eine Tagesmeinung gegen die andere kämpft, eine neue Form gegen eine alte, vor allem in kirchlichen Bereichen, und sich leichtfertige Schlagworte und modische Schlampereien an den Kopf wirft, gibt es nur eine wirklich fruchtbare Revolution: die in die Tiefe des eigenen Herzens. Sonst macht man sich zum bloßen Berichterstatter des Aktuellen, der kein Urteil besitzt, zum bloßen Sprachrohr neuester Slogans, die man geflissentlich von allen Seiten zusammenhört, um zu zeigen, wie informiert man ist. Man wird zu einem öffentlichen Schauobjekt, das zwar beredet, gefilmt und gefeiert wird, das aber mit Lautstärke des Verkündens und Verkündetwerdens die fehlende Intensität zu überdecken versucht. „Wir können uns der letzten Geheimnisse nicht anders versichern, als durch einen kühnen Sprung in die Tiefe.“ Aus der Tiefe solch „schwieriger Schönheit“1 lebt die Sprache le Forts. Wenn sie auch als letzte Blüte eines klassischen Schriftdeutsch anderen Räumen entstammt, so besitzt sie doch ihre eigenartige Glaubwürdigkeit, die über den „Ausdruck“ einer

Zeit hinausreicht, mehr durch betrachtende Kontemplation als durch streng gebaute Strophen wirkt, mehr durch Intensität der „Gedankenreime“ als durch zierlich glatte Formen, mehr aus hoher Bewußtheit als aus artistisch gekonnten Effekten oder gar durch aus dem Unterbewußtsein registrierten Strömen.

In Konsequenz dazu spricht ihre Dichtung immer aus einer gewissen Distanz, was schon ihre Vorliebe für geschichtliche Stoffe anzeigt, was aber keineswegs Lebensnahe und Aktualität der Problematik beeinträchtigt; der geschichtliche Stoff ist nur „die diskretere Form der Zeitnähe“. Im Gegenteil, die eigenartige Faszination dieser Dichtung liegt in der Verbindung von Zeitgemäßheit mit gleichzeitiger Unzeitgemäßheit. Was heute nach dem Konzil als neueste Errungenschaft verkündet wird, was Manager, Aktivisten, die über alles Informierten, die nachkonziliaren Modefans bereits bis zur Unerträglichkeit propagieren (Hinwendung zur Welt, ökumenisches Denken, Toleranz, Dialog usw.), wurde längst im ersten Viertel des Jahrhunderts von Gertrud von le Fort (und anderen hellhörigen Geistern) verkündet. Den Kennern ihrer Werke sind diese Dinge, bis einschließlich das Dekret über die Kirche, nicht neu. Damals allerdings wurde sie dafür mit Verwunderung, Skepsis und Mißtrauen beobachtet, man hat sie verdächtigt und zensuriert. Die heutigen Neuerer tun nun so, als ob es ihre Entdeckungen wären und als ob sie „selbstverständlich schon immer“ dafür gewesen wären. Gegen all diese Lauten und Vermessenen, diese „Wetterflüchtigen des Geistes“, ruft sie: „Wir sind verdurstet bei euren Quellen, denn ihr tragt in eurem Munde immer nur euer eigenes Rauschen. Wen Gott reden heißt, den heißt Er schweigen.“ Wir verdursten auch heute an dieser lauten Vermessenheit. Schmerzlich und verheerend wirkt sich diese Betriebsamkeit des eigenen Rauschens in sakralen Räumen aus, wo ein Überhandnehmen der Funktionäre, eine pastorale Redseligkeit nach letzten Methoden und in Landessprachen nur neueste Formen des „Herr, Herr sagens“ kreiert und dazu noch Schlampereien in Tun, Sprache und Gesang mit „inkarnatorischem Denken“ zu rechtfertigen sucht. — Wer die Dichterin kennt, weiß, wie bestürzt und besorgt sie heute ist, ihre Memoiren reden deutlich genug.

Das Schweigen, in das einige der großen Gestalten le Forts führen, ist überzeugender: so das des Rabbi Elchanan oder des Kardinal-Bischofs von Porta im „Papst aus dem Ghetto“, das Vermächtnis der Großmutter: Charakter und Schweigen, die Wortkargheit Tillys, das Verstummen des großen Farinata, da er gebannt wird, ja sogar das Verstummen Enzios. Sie benehmen sich nicht wie in billigen christlichen Tendenzromanen, verkündigungstheologischen Predigten und Volksgottesdiensten, wo ein metaphysischer Hafen als Happy-End winkt und die Sprache zur bloßen Funktion der Mitteilung, möglichst verständlich auch „für den bloß- füßigen Schrebergärtner“, einzig mit richtiger Grammatik und Wortwahl, herabgewürdigt wird, wie sie angeblich das Ideal sakraler urid liturgischer Kulte sein soll. Nur eine demokratisch nivellierte, den sakralen Kult auf Volksandachten reduzierende Gesellschaft, mit „Mut zur Formlosigkeit“, kann so denken. Wie großartig dagegen, wenn das Schweigen, das im Dialog Tillys mit dem jungen Jesuiten anbricht, einmündet in den großartigen lateinischen Hymnus des Credo, das Protestanten und Katholiken gemeinsam an- stimmen, dessen Sätze Allgemeingut auch und gerade in ihrer lateinischen Form geworden sind. Wie großartig der Dialog der Tochter Farinatas mit'jenem Franziskanerbruder, der ehedem ihrem Vater die Bannbulle überreicht hatte, das stumme Niėderknien Arabellas am Schluß von „Plus ultra“, oder jene überwältigende Szene, wo Enzio und Veronika auf ihrer nächtlichen Wanderung durch Rom, dabei Größe und Fragwürdigkeit heidnischer wie christlicher Geschichtsräume durchmessend, vor die ausgesetzte Monstranz (!) von Sankt Peter kommen, oder jene auf Leben und Tod zielende Auseinandersetzung um das Sakrament der Eucharistie im „Kranz der Engel“. Das ist tiefer erfahren als das aktivisti- sche Adaptieren hektischer Liturgisten, die so oft eine authentische Erfahrung vermissen lassen, gar nicht zu reden von der praktizierten Kultur- und Formlosigkeit.

Form ist absolut nichts Nebensächliches, sondern konsequente Vollendung der spezifisch menschlichen Bereiche, eine „Form des Lebens“. Deswegen ist Kunst kein fauler Zauber, kein Luxus neben dem Notwendigen, kein Ausgrasen ins Ungenaue und Sentimentale, sondern eine Weise der Wahrheit, ein Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit im Erscheinen der Schönheit (Heidegger). Die künstlerische Form erweist sich als die stammelnde Antwort auf die Sinnbildlichkeit des Seins, sie erzeugt eine Durchlässigkeit der sinnlichen Welt für eine ganz andere. Die Kunst gehört zu jenen „geistigen Räumen, welche diese Welt nicht nur bedeuten, sondern in einem höheren Sinne diese Welt sind“. Nichts zeigt das Unverständnis für diese Realitäten so sehr, wie der Hinweis, leider auch von höheren Stellen, man solle die sakrale Musik in Konzertsälen aufführen, da sie sich für die heutige Gottesdienstgestaltung nicht eigne. Als ob man, was für den Gottesdienst geschrieben war, rein ästhetisch genießen könne, womöglich unter der Stabführung irgendeines Stardirigenten. Das heißt Kunst und Religion unheilvoll auseinanderreißen, das Kunstwerk zum Kunststück degradieren, einer Säkularisierung menschlichster Bereiche das Wort reden! Mit modernistisch auffrisiertem Kitsch (der zum großen Teil die rhythmischen Melodien singender Kapläne sind) und mit aktivistischem Getue unter religiöser Etikettierung kann nicht die Welt, schon gar nicht der Mensch, heimgeholt werden. Wie eindringlich warnt davor die Gestalt des Vormundes im „Kranz der Engel“, hinter dem die Persönlichkeit von Ernst Troeltsch steht.

Wir sind uns bewußt, daß ganze Generationen, auch von Wissenschaftlern, immer wieder Fehlurteile gefällt haben, wir sind uns aber auch bewußt, daß Gertrud von le Fort manches, was heute auf der Bestsellerliste steht und in alle Himmel gelobt wird, überragt. Zu ihrem 90. Geburtstag möge hingenommen werden, was vielleicht sonst der Überschwenglichkeit verdächtig wäre. Außerdem haben wir noch lange nicht das Maß erreicht, was bei anderen Modegrößen zu solchen Anlässen produziert wird. Ihr Anruf, den wir hier nur zu einem kleinen Teil hörbar gemacht haben, kann nicht überhört werden. „Das wirkliche Leben baut unseren tiefen und eigentlichen Wandlungen keine großartigen und feierlichen Pforten. Alle Quellen, die unsere Erde tränken, strömen von innen. Verhüllt ist jede Geburt.“

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