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„Verlust der Mitte“

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Die Kunstwissenschaft betrachtet es seit mehr als einem halben Jahrhundert als ihre wichtigste Aufgabe, durch Vergleich der Objekte und Anwendung der Stilkritik eine sachliche Einordnung und zeitliche Reihenfolge der Werke zu erlangen. Sosehr diese Methode notwendig und zielführend ist, können und sollen am überlieferten Kunstigut auch andere Maßstäbe angelegt werden, die uns einen tiefen Einblick in das Wesen und die Struktur eines Zeitraumes ermöglichen. Es ist der geistesgeschichtlicbe Hintergrund, der sich sinnfällig in Tafelbildern und Plastiken, in der Architektur, Buchmalerei oder im Kunstgewerbe offenbart. Die nervöse, nicht seilten fiebrig erregte Unruhe, wie M. Seidllmayer formuliert, die das Zeitalter des Spätmittel-alters erfaßt hat, wird auf den Tafelbildern spürbar, in der Gruppierung der dargestellten Personen, deren Gestik und Gebärden, ohne Unterschied, welche Themen zur Darstellung gelangen. Unablässige Bewegung, stete Betriebsamkeit und Geschäftigkeit — bei allgemeiner Richtungslosigkeit — treten überall in Erscheinung.

Diese Richtungslosigkeit und Unentschie-deraheit des Weges bestimmte übrigens das spätmittelalterliche Dasein in seiner gesamten Lebenssphäre. Politisch durch den Kampf aller gegen alle nach Zerschlagung der Ord-nungsimacht des universalen Kaisertums, sozial durch das Auftreten des Bürgertums, das mit seinen hohen Ansprüchen in die bisher taäuerlich-aristdkratische Struktur des Mittelalters einbricht. Vollends kommt die Labilität im ethisch-religiösen Bereich, im Ringen um die richtige Lebensform zum Ausdruck. Zwei polar gegensätzliche Mächte stehen einander gegenüber: die „Welt“ — oftmals als „Frau Welt“ mit zwei Gesichtern dargestellt — mit ihren Verlockungen und ihrem Begehren und die transzendente Welt mit ihren frommen Sehnsüchten „und ganz besonders mit ihren Bedrohnissen und Beängstigungen der Seele am Menschen, vor allem am bürgerlicher« Menschen; er findet sich zwischen ihnen nicht mehr zurecht und läßt sich daher allizu leicht haltlos zwischen den Extremen hin und her reißen“ (M. Seidlmayer). Dies war nicht zuletzt deshalb der Faffl, weil die Wissenschaft in den Händen von zwar eifrigen, aber wenig schöpferischen Menschen in einem saft- und kraftlosen, an den Problemen vorbeigehenden Intellektualismus vertrocknete, und weil ■ dieselbe Wissenschaft sich abseits des wirklichen Lebens gestellt hatte und daher auch nicht Ziel, Inhalt und Form weisen konnte. „Unein-heitlichlkeit ist die Einheit der Zeit, Stillosig-keit ihr Stil, im Leben, Dichten und Denken... Die Menschen entbehren der eigenen Richte, sie sind innerlich unsicher geworden ... Denn diese Wellt ist nicht mehr stark genug, das Alte zu halten und noch nicht stark genug, das Neue durchzusetzen und ganz zu wollen'“ (W. Rehm).

Die großen Volkaprediger wetterten in Wort und Schrift mit großem Eifer gegen Habsucht, Wucher und Übervorteilung des Schwächeren, Die Zeit sah sich ungeheuren Erwerbs- und Besitzmöglicbkeiten gegenüber, die mit der Geldwirtschaft entstanden sind, doch fehlte für das richtige wirtschaftliche Vorgehen die nötige ethische Kraft. Dies macht auch verständlich, daß die jüngste Forschung das romantisch verklärte Bild einer christlichen Ständeordnung in der mittelalterlichen Stadt in wesentlichen Punkten korrigieren mußte.

Seit der Mitte des 13. Jahrhunderts setzte der unaufhaltsame äußere und Innere Zerfall des Rittertums ein. Aus der tiefgreifenden wirtschaftlichen und beruiElichen Krisis gab es die widerspruchsvollsten Auswege, nämlich von der völligen Verbürgerllichung bis zur völligen Verlotterung (Kriegshandwerk) und im äußeren Gehaben des Ritters vom femininen Stutzertum mit künstlich gelockten und

blond gefärbten Haaren, wie es etwa Petrus von Zittau schildert, bis zum rohen Raufbold sowie Sauf- und Freßbruder. Daran änderte im Grunde genommen auch die Erneuerungsbewegung um die Mitte des 14. Jahrhunderts nichts, die in der Scheinwelt von meist kurzlebigen „Ritterorden“ Zuflucht suchte. Man beachte etwa auf den Tafelbildern die prunkvolle Kleidung und Rüstung, Haartracht und Kopfbedeckung oder die Schuihmode — wobei die aufstrebenden Bürger mit dem Rittertum wetteiferten, brachten sie es doch niemals au jenem festgefügten, in sich ruhenden Staatsbewußtsein, wie einst der ritterliche Stand — oder man lese, was Johannes Capestrano über die Mode der Wiener überliefert, es ist ein wahrhaftiger „Jahrmarkt der Eitelkeiten“.

Dieses ganz und gar im Emotionellen wurzelnde Zeitalter verfügte über einen ungeheuren Vitalismius, dennoch war der Kräfte-verschleiß enorm. Porträts mit Darstellungen von Männern im dritten oder vierten Lebensjahrzehnt zeigen uns völlig verbrauchte Menschen, die wir nach unseren Erfahrungen meist doppelt so alt schätzen würden-. Ähnlich einem menschlichen Porträt präsentiert sich auch dieser Zeltabschnitt mit der Physiognomie „eines von zahllosen Linien kreuz und quer durchfurchten', eines zerrissenen Antlitzes“ (M. Seidlmayer).

Die theoretische und dazu schulmeisterlich scheltende und moralisierende Lehr- und Spruchdichtung läßt mit Eindringlichkeit erkennen, daß Mut und Kraft zu hohen Anforderungen und Idealen nicht mehr vorhanden waren. Die Didaktik verfällt in eine primitive Schwarzweißmalerei einer grob dualistischen und letzten Endes materialistischen „Moral“. Es hat den Anschein, als vermöchte man in der „Welt“ nur mehr das Häßliche und Gemeine, Verderbnis und Laster zu sehen. Und wie gebannt starrte diese „Moral“ auf Sünde, Tod und Hölle. Es liegt nahe, daß aus solcher Geisteshaltung jene charakteristischen Erscheinungen einer überreizten Psyche, einer Im Grausigen mit Wollust wühlenden Phantasie auftreten mußten: die ekstatisch erregten Geißlerfahrten mit erscbütternder Sünden-und Höllenpredigt, die angst- und schreckenerregenden Schilderungen der sich am Sterbelager um die Seele des Dahinscheidenden raufenden Teufel und Engel und letztlich die bildliche und literarisch« Darstellung des Totentanzes.

Wenngleich ein intensives kirchliches Leben das Zeitalter beherrscht, eine Flut von frommen und mildtätigen Stiftunigen einsetzt, das Volk in seinem Durchschnitt rechtschaffen war, hat die allgemeinmenschliche und sittliche Bilanz des späteren Mittelalters bei allen Ständen, bei Klerus und Laien, etwas Erschreckendes an sich. „An Gewalttätigkeit und Roheit der Kriegsiührung, besonders im systematischen Niederbrennen des wehrlosen offenen Bauernlandes, tat man sein Möglichstes. Und inbrünstig hassen und verfluchen konnte das Zeitalter wie kaum ein anderes mehr. Die Grausamkeit der Justiz mit ihren sadistisch erfinderischen Folter- und Martermethoden ist nicht leicht mehr zu überbieten und — was das Bezeichnende ist— sie wird dem Volk als öffentliches Schauspiel dargeboten, die rohesten Masseninstinkte dabei aufwühlend“ (M. Seidlmayer). Abermals legen die Tafelbilder beredtes Zeugnis für diese aus dem Löben entnommenen Szenen ab: die Passion Ohristi, Märtyrerszenen und dergleichen waren dafür beliebte Sujets, die gestatteten, Grausamkeit, Haß, aufgepeitschte Massen und Folterungen wirklichlkeitsgetreui wiederzugeben.

Eines für die Kunst wichtigen |Umstandes ist noch zu gedenken, die vor allem vom Bürgertum ins Leben gerufenen neuen Formen des Heiligenlkultes. Unübersehbar ist die Fülle von Spezialandachten, Spezialheiligen

und -patronen für alle Gemeinschaften und Berufsaweige, für jede Krankheit, jeden irdischen Wunsch oder jede irdische Not. Es kommt zu einer Vermenschtiebung des Heiligen, das Sakrale steigt in die bunte Alltagswelt herab, der religiöse Akt wird aber glei-zeitig vom Nützlichkeitsgedanken ergriffen. Fragt man nach der Ursache dieser Frömmigkeitsformen, stellt man zur größten Überraschung fest, daß ein unersättlicher Hunger nach „Sicherheit“ die Triebfeder war und daß die Angst zu einem Grundelement der Zeit geworden war.

Seit den Tagen der Romantik war es üblich, eine verklärende Gloriole über das Spätmittelalter auszubreiten, und Baukunst sowie bildende Künste — wenn diese auch vieles von der inneren Maßlosigkeit und den seelischen Irrungen und Gefährdungen dieses wirren und zerrissenen Zeitalters erkennen lassen — schienen dieser Anschauung recht zu geben, man darf sich aber über die tiefen Klüfte und wahren Untiefen dieser Periode nicht hinwegtäuschen lassen. Der „Verlust der Mitte“ war damals bereits gegeben und wurde als solcher auch empfunden!

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