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In ihrem Debütroman "Vienna" entzaubert und erfindet Eva Menasse Familienmythen.

Mein Vater war eine Sturzgeburt." Kopfüber stürzt eine der Hauptfiguren ins Leben und mitten hinein in die Geschichten einer Familie, die Tochter Eva Menasse in ihrem Roman "Vienna" aufblättert. Der Vater ruiniert dabei noch den Pelzmantel der Großmutter - ein Geschenk des Großvaters, eines Spielers und Luftnummernkünstlers, mit dem er einen seiner zahllosen Seitensprünge zu sühnen versuchte. Und das alles nur wegen der Bridgeleidenschaft der Großmutter, die unbedingt noch ihre Partie zu Ende spielen muss.

Der jüdische Großvater ist Vertreter für Weine und Spirituosen, die Großmutter eine katholische Sudetendeutsche aus Mähren, die aus der Kirche ausgetreten ist. Diese nicht gerade harmonische konfessionelle Mischehe ist eine der Wurzeln der Familiengeschichte, die von den Brüchen des 20. Jahrhunderts bestimmt ist und reichlich Stoff für den Anekdotenschatz der Familie bietet. Naturgemäß zählt die Geburtsgeschichte zu einer der beliebtesten im Familienrepertoire, denn sie erfüllt alle Anforderungen an Witz und Tragikomik. Sie zeigt aber auch, dass die Erzählerin ihren mitleidslosen, aber dennoch liebevollen Blick weniger auf den weiblichen Teil der Familie richtet - ihre Mutter ist eine katholische Polin -, sondern auf den väterlichen, jüdischen Teil, Garant für Sprachwitz und Wortmächtigkeit.

Exil und Rückkehr

"Ich habe bis heute die ältesten Geschichten am liebsten. Sie sind am offensten und am verheißungsvollsten, weil ihr wahrer Kern so verschwindend weit zurückliegt und deshalb fast alles erlaubt ist." Das bekennt die Erzählerin, die viele Züge der bisher als Journalistin bekannten Autorin Eva Menasse trägt. Sie versteht sich als gleichermaßen schonungslose Beobachterin wie ironisch distanzierte Chronistin der Familiengeschichten, in die sie selbst nur wenig verstrickt ist. Freilich ist sie zuweilen auch eine allwissende Erzählerin, die Fakten und Fiktionen zwischen ihrer eigenen Familie und ihren Romanfiguren hemmungslos vermischt und so die Legendenbildung der Familiensaga verdoppelt. So ist der Bruder, den wir als Schriftsteller kennen, im Buch ein rebellischer Historiker, der sich durch die Entlarvung von Nazis einen Namen gemacht hat, während die Schwester in die traditionellen Rollenmuster der mehr oder weniger frustrierten Ehefrau einsteigt. Am Ende muss sich die Erzählerin allerdings von ihrem "Familienwahn" verabschieden. Denn nach bisweilen geradezu kalauernden Geschichten steuert der erbitterte Streit in der zweiten und dritten Nachkriegsgeneration auf die entscheidende Frage zu, wer ein richtiger Jude sei.

Während die Großeltern die Nazizeit in Wien überleben, werden die beiden Söhne mit einem Kindertransport nach England verschickt. Der jüngere Vater erweist sich als begnadeter Fußballer, der später als Spieler der Vienna zu einem Fußballidol wird und in der Nationalmannschaft spielt - soweit decken sich die biografischen Daten zwischen Roman und Wirklichkeit. Als er nach Kriegsende nach Wien zurückkehrt, muss er erst wieder Deutsch lernen, doch schon bald findet der Luftikus und Frauenliebhaber "alles bestens". Der ältere fünfzehnjährige Onkel wird von einem Londoner Schneider aufgenommen und kämpft nach einer Internierungszeit auf der Isle of Man im Dschungelkrieg in Burma. Nach Wien kehrt er mit Frau und Familie zurück, er hofft auf den Kommunismus und schimpft über die Nazigfraster, die keine gewesen sein wollen. Die schöne Schwester Katzi kann zwar mit ihrem Mann nach Kanada emigrieren, stirbt aber bald an Tuberkulose und spielt in den Geschichten keine Rolle mehr.

Täter und Opfer

In den ersten Nachkriegsjahren wird die geradezu märchenhafte Familienharmonie auch dadurch nicht gestört, dass Vater und Onkel nach ihren Scheidungen ein zweites Mal heiraten, die ersten und zweiten Frauen werden in den Kreis integriert und die Kinder verachten jene, die sie als Halbgeschwister bezeichnen. Doch je älter die Kinder werden und je mehr sie die lustigen Geschichten hinterfragen, desto brüchiger werden die Märchen. Schließlich gehört ein Teil der Familie zu den Tätern, ein Teil zu den Opfern. So hat Tante Gustl, eine Schwester des Großvaters, einfach vergessen, die ihr während des Krieges zur Aufbewahrung überlassenen Gegenstände zurückzugeben. Dafür ist ihr verstorbener Ehemann "Dolly Königsbee", der sogar "zu bleed fir Redensarten" ist, weil er Redewendungen immer grotesk verdreht hat, ein Objekt des Spotts geblieben. Täter und Opfer spielen aber auch im Wien der Nachkriegszeit gemeinsam Karten im Café "Bauernfeind" oder versaufen die Nächte im "Weißkopf". Die Familie verbringt ihre gesamte Freizeit am Schneuzl-Platz, einem Sportclub, den der Vater für ein "Paradies" hält, während er die Wünsche seiner Gattin nach Ausflügen und Wanderungen stets mit der großväterlichen rhetorischen Frage "Bin i a Reh?" ablehnt.

Erinnern und Erfinden

Eva Menasse erzählt in ihrem ersten Roman "Vienna", in dem Wien eine der Hauptrollen spielt, keine chronologische Familiengeschichte. In den Erzählfragmenten stellt sie verschiedene Lesarten von Ereignissen und Charakteren vor, die einander ergänzen oder widersprechen und keinen Anspruch auf Wahrheit erheben. Wie bei den Familientreffen alle durcheinander reden und Geschichten, Personen und Zeiten durcheinander geraten, reiht sie Kapitel voller Rückblenden und Zeitsprünge aneinander, die einen ebenso komischen wie traurigen Bilderreigen entfalten. Sie alle kreisen um die Hauptsache der Familienabende, um "Em-Em", wie die Frau des älteren Vetters es getauft hat, um "manisches Mythologisieren", also die Herstellung von Familienidentität durch Anekdoten und Geschichten voller Sprachwitz, in denen sich Erinnerungen und Erfindungen vermischen, anderes verschwiegen wird. Doch schließlich werden die Mythen entzaubert und der Blick öffnet sich auf eine "verminte Familiengeschichte".

Vienna

Roman von Eva Menasse

Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2005, 432 Seiten, geb., e 20,50

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