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Vernunft, das Pladoyer fur die Demokratie

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Dieses Österreich! Nichts bringt es aus der Passung. Bis auf den heutigen Tag hat es seine geistige Konsistenz in einem Maße bewahrt, daß es einer Friedensinsel gleicht inmitten einer stürmischen See, die den Erdkreis bedeckt. Georg Wilhelm Friedrich Hegel hat den Sturm gesät. Seit der Saat kommt die Welt nicht mehr zur Ruhe. Neu etwa an der Neuen Linken ist der alte Hegel, dessen Geburtstag sich am 27. August zum 200. Male jährt: so unausschöpflich ist sein Werk, so tief und breit die Herrschaft, die er über Geist und Politik unseres Planeten ausübt. Der nüchterne, unverdächtige Gelehrte, Joseph Maria Bochenski, scheut sich nicht, zu sagen, daß die Auseinandersetzung um Hegel den Weltbürgerkrieg der Gegenwart treibt.

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Dieses Österreich! Nichts bringt es aus der Passung. Bis auf den heutigen Tag hat es seine geistige Konsistenz in einem Maße bewahrt, daß es einer Friedensinsel gleicht inmitten einer stürmischen See, die den Erdkreis bedeckt. Georg Wilhelm Friedrich Hegel hat den Sturm gesät. Seit der Saat kommt die Welt nicht mehr zur Ruhe. Neu etwa an der Neuen Linken ist der alte Hegel, dessen Geburtstag sich am 27. August zum 200. Male jährt: so unausschöpflich ist sein Werk, so tief und breit die Herrschaft, die er über Geist und Politik unseres Planeten ausübt. Der nüchterne, unverdächtige Gelehrte, Joseph Maria Bochenski, scheut sich nicht, zu sagen, daß die Auseinandersetzung um Hegel den Weltbürgerkrieg der Gegenwart treibt.

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Was mag Österreich gegen diesen großen Denker aus dem Schwabenland, das sich unsichtbar, doch glücklich mit Vorderösterreich vermählt, immunisieren? Wer soll die Gründe zählen? Nur eine Äußerlichkeit: In der Revolutionsära der Jahre 1848/49 hatte sich in Wien ein Kreis von Dozenten Hegel'scher Observanz gebildet. Unter ihnen trifft man den nachmaligen liberalen Politiker Johann Nepomuk Berger, Johann Perthaler und Moriz Heyssler. Die drei wurden wegen ihres Hegelianismus im Berufungsverfahren nicht berücksichtigt. Unterrichtsminister Graf Thun wollte von ihnen nichts wissen. Auch ein Josef Unger, der Gründer der österreichischen Zivil-rechtsdogmatik auf der Grundlage der Historischen Rechtsschule, mußte sich von Hegel lossagen. In „Neben-wien“, in Prag, wirkte einstweilen, in der Windstille, Leopold Hasner, Ritter von Artha. Seit 1849 lehrte er als a. o. Prof. der Rechtsphilosophie Hegefisches Gedankengut. Wegen der Veröffentlichung seiner „Filosofie des Rechts“, Prag 1851, wurde er von Thun auf die Nationalökonomie versetzt. Der Innsbrucker Kirchenrechtler und Rechtshistoriker Ernst Freiherr Moy de Sons befehdete heftigst Leopold Hasner, der erst als Unterrichtsminister 1866/67 in Wien Rechtsphilosophie lesen konnte. Zur Stimmung gegen Hegel trugen gewiß zwei einflußreiche Köpfe in Wien bei: Franz Grillparzer und der Bote einer neuen Philosophie, Franz von Brentano. Im Vortrag „Uber die Zukunft der Philosophie“, den er am 22. März 1892 in der Philosophischen Gesellschaft Wien gegen die Inaugurationsrede Adolf Exners (22. Oktober 1891) hält, ruft Brentano seinen Zuhörern zu: „Schon unser Grillparzer hatte die Willkür in den Werken von Hegel erkannt und sich daraufhin mit Abscheu von ihnen abgewendet.“ Brentano, der Angreifer, allerdings — welch zähe Parallelität! — spricht von seiner Zeit als einer solchen, in der man es als Hegelianer leichter habe denn als Antihegelianer. Seltsam, daß dieser bedeutende Denker, der den philosophischen Strömungen im engeren Sinn jene Wende gibt, die unsere Tage nachhaltig bestimmen — Heideggers Bruder, Messner in Meßkirch, versichert: „Den Martin hat der Brentano auf dem Gewissen!“ — seltsam, daß dieser Denker solch eine Allergie gegen Hegel empfindet. Dabei sind die Ähnlichkeiten in der geistigen Herkunft verblüffend. Die Verwandtschaften erstrek-ken sich bis zu Einzelheiten, beispielshalber in der ausgeprägten Abneigung gegen das Römische Recht. Lassen wir die Geschichte und die Geschichten auf sich beruhen: Wenden Wir uns unseren Nöten zu. Ich glaube, fruchtbare Weltgespräche über die Gräben und Rinnen hinweg, die das Niveau der Gedankengefechte erlangen könnten, auf dem ein Sokrates, Plato und Aristoteles den Sophisten entgegentraten, wird man nicht eher zu führen imstande sein, als man sich den Wort-, Begriff-, Themen- und Problemschatz Hegels angeeignet haben wird, des Mannes, der etwas von einem Ala-din hat. Daß viele Wahrheiten wirken — und doch nur eine Wahrheit am Werke ist, vermag gewiß keine Methode besser zu erklären als die Hegeische Dialektik, die Tatbestände und Sachverhalte an den Tag fördert, die auf einem anderen Wege nie ans Licht gefunden hätten

Denker von der Größe Hegels bieten solch eine Vielfalt an Möglichkeiten, sie „systemimmanent“ zu interpretieren, daß es nicht Wunder nimmt, wenn fast jeder sich auf Hegel beruft, welche Lehre er auch immer verficht. Allein — es walten in den Werken großer Meister Strukturtendenzen, die der Interpretationsfreudigkeit Grenzen setzen — bloß, daß zu verschiedenen Zeiten verschiedene Stränge von der Art sichtbar werden.

Als Beitrag zum Hegel-Jahr soll ein einziger Aspekt umrissen werden, einer, der, legt man ihn frei, gleich „zwei Fliegen mit einem Schlag trifft“. Einmal wird ein Klischee zerstört, das gut eineinhalb Jahrhunderte in Kurs stand. Zum anderen geht es um ein Grundproblem der Gegenwart: Hegel und die Demokratie sind gemeint! Dante, der heimliche Linksaristoteli-ker, gar Averroist, schreibt: Non enim cives propter co^sules, nec gens propter regem, sed e converso consules propter cives et rex propter gentem, quia quemadmodum non politia ad leges, quin imo leges ad politiam ponuntur, sie secundum legem viventes non ad legislatorem ordinantur, sed magis ille ad hos... (Monarchia I 12, 48—53). Als wollte Marx ebendiese Stelle aus Dantes „Weltstaat“ gestrafft übersetzen, faßt er den Gedanken in der „Kritik des Hegeischen Staatsrechts“: Der Mensch ist nicht des Gesetzes, sondern das Gesetz ist des Menschen wegen da... Das ist die Grunddifferenz der Demokratie (Marx, Kritik des Hegeischen Staatsrechts, Marx-Engels-Werke Bd. 1, Berlin 1964, S. 231). Das hat Marx von Hegel gelernt. Demokratie ist der Staat, wo der Mensch seine Bestimmung erreichen, wo er sich selbst bestimmen kann. Auf die knappste Formel gebracht, ist Demokratie der Modus der Selbstbestimmung des Menschen kraft Mitbestimmung, genauer: kraft seiner Mitwirkung an der Ordnung, die ihn birgt. Der Prototyp solch einer Ordnung ist die politische Ordnung, das Gemeinwesen, worin der Mensch lebt. Mitwirkung — das ist das Angelwort. Es setzt voraus und schließt ein: den Menschen als Subjekt jeglichen Geschehens, das ihn trifft, den Menschen als „Partei“ im „Prozeß“, den ihm das Leben macht. Das ist ein gemeingültiges, übertragbares Schema, das alle Lebensbezirke transzendiert, obwohl es aus einem, dem politischen Bereich, stammt. Philosophie, Theologie, vollends die „Vulgata“ holen sich von alters her aus Politik und Jurisprudenz ihr Vokabular. Was hat dies mit Hegel zu tun? Sehr viel; denn mit der „Phänomenologie des Geistes“, die manch einer des Denkers Schlüsselwerk nennt, stellt er den ersten, einen schweren Baustein zu einer modernen Theorie der Demokratie bei. Hegel leiht nämlich dem absoluten Geist demokratische, politische und keine idiotischen Züge; man muß nur wahrhaben wollen, daß „politeuo“ „aus dem Haus auf die Agorä gehen“, „aus sich heraus treten“, „sich am Allgemeinen beteiligen“; „idioteuo“ hingegen „sich besondern“, „sich absondern“, „sich zurückziehen“ heißt.

Das Absolute, das Wahre, ist Subjekt, lebendiger Geist. „Das Geistige allein ist das Wirkliche.“ Aber: „Die Kraft des Geistes ist nur so groß, als ihre Äußerung, seine Tiefe nur so tief, als er in seiner Auslegung sich auszubreiten und sich zu verlieren getraut.“ Der Geist braucht den Menschen, auf daß er darein sich ausgliedere. Er ist auf ihn angewiesen. Der Mensch ist die Erscheinung, worin der Geist erscheint, obgleich keineswegs das in der Erscheinung Erscheinende — der Geist — und die Erscheinung — dieser, jener Mensch, hier und jetzt — einerlei sind. Ohne Parusie kein Absolutes; ohne mich keine Parusie. Nichts geschieht um uns, noch mit uns ohne uns. Die Mitwirkung des Menschen als dem Wahren' ist ein Baugesetz des Denk-und Seinsprozesses. Der Mensch ist die zureichende und notwendige Bedingung des Wahren: Der Mensch, und zwar jedes empirische Individuum, wirkt unauswechselbar am Prozeß des absoluten Geistes mit.

Paragraph 209 A, einer der tragenden Gedanken der Hegeischen „Rechtsphilosophie“, wonach der Mensch so gilt, „weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener u. s. f. ist“, welches „Bewußtseyn ... von unendlicher Wichtigkeit“ ist, folgt zwingend aus der Rolle, die der Mensch im Sein des absoluten Geistes spielt. Die Behauptung der Grundrechte als Menschenrechte — der Strukturtendenz nach — ist Sinn der Demokratie. Darin stimme ich mit Maurice Hauriou und Jacques Maritain ebenso überein wie mit Werner Moi-hofer (vgl.: „Demokratie im Sozialismus“, Frankfurt a. M. 1968). In dem Maße, wie Hegel die philosophische Grundlegung der Theorie der Grundrechte als Menschenrechte meistert, in demselben Maße setzt er der Theorie der Demokratie den Schlußstein auf. Überhaupt versteht Hegel — ihm folgend der junge Marx — Demokratie, gemäß ihrem klassischen Ursprung als Verfas-sungs- und Gesetzesstaat, als Rechtsstaat. Welchen Stellenwert nimmt eigentlich das Recht in Hegels System ein? In gewissem Sinn: den zentralen! Denn ist jeder Mensch der Erscheinungsort des Geistes, so leben die Menschen nicht beziehungslos, chaotisch aneinander vorbei, vielmehr leben sie miteinander, aufeinander bezogen: Das Recht ist der Inbegriff dieser Beziehungen; es ist die Abmessung, worein der absolute Geist sich als objektiver Geist ent-und freiläßt. Das Recht ist die Ordnung der Realität des Absoluten. Wie der Mensch, so ist das Recht eine zureichende und notwendige Bedingung der Selbstverwirklichung des Wahren. Es ist die Region der Realisierung und Aktualisierung des Geistes.

Demokratie und Rechtstaat, die konstitutionelle Demokratie, zusammen ergeben sie den „wirklichen“ Staat. Weitere Stützen der These, daß Hegel Bausteine zu einer Theorie der Demokratie liefert, sind:

1. Der Ernst und Eifer, womit Hegel das Moment des öffentlichen, der öffentlichen Meinung, namentlich der Presse abhandelt.

2. Hegel wird nicht müde, das Prinzip der Öffentlichkeit als Verfahrensprinzip bei der Rechtserzeugung und -anwendung auf allen Stufen zu verlangen: für die Legislative (Parlamentsöffentlichkeit), die Exekutive (gegen die Arkanpraxis) und die Justiz.

3. Wie das Volk der Griechen, wie namentlich Aristoteles, so verhehlt Hegel nicht seine Vorliebe für die öffentliche Existenz gegen die private. Marx wird ihm darin folgen, Heidegger nicht.

4. Mit den zwei letztgenannten Punkten hängt Hegels Ruf nach allseitiger öffentlicher Kontrolle zusammen, wenngleich er mit dem Terminus „Kontrolle“ spart. Die Öffentlichkeit genießt ein unverlierbares, immerwährendes kollektives Grundrecht auf Durchsichtigkeit aller gesellschaftlichen und staatlichen Vorgänge, obendrein das Grundrecht auf Information durch einen ununterbrochenen Nachrichtenstrom.

5. Hegel legt den Grund zur gerichts-förmigen Rechtskontrolle, zur Gerichtsbarkeit des öffentlichen Rechts, das ist zur Verfassungsgerichtsbarkeit, um des wirksamen Schutzes des Primats der Verfassung willen, und zur Verwaltungsgerichtsbarkeit, um der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung willen. Hier wie dort steht die Einordnung von eingesetzten Staatsgewalten unter die Volksgewalt.

6. Demokratie erschöpft sich nicht auf der Stufe der Gesetzgebung; die Mitwirkung erstreckt sich auf die Verwaltung, vollends auf die Rechtsprechung. Hegels Begehren nach der Mitwirkung des Volkes an der Rechtsprechung, wie es dereinst Art. 91, Abs. 1 des österreichischen Bundesverfassungsgesetzes stipulie-ren sollte, vor allem sein Begehren nach Geschworenengerichten, kommt von seiner latenten Theorie der Demokratie her.

7. Desgleichen sein Interesse für das Prinzip der Dezentralisation und Selbstverwaltung.

8. Als Baustein für eine Theorie der Demokratie wird man wohl Hegels Lehrsätze über die komplementär-integrative Funktion des „Zutrauens“ oder „Vertrauens“ des Volkes oder der Öffentlichkeit in die Rechtmäßigkeit der Gewalten des Gemeinwesens anzusprechen haben (consensus populi): Fehlt dieses Element, ist der rechtfertigende Grund des Bestandes solch eines Staates weggefallen.

9. Demokratie ist die Form des menschlichen Zusammenlebens, wo keiner keinen niederzwingt, vielmehr verbindliche Beschlüsse, Gesetze, einzig kraft des Kompromisses und der Kunst des Überzeugens (peitho, persuado) Zustandekommen. „Es kann nur der zu etwas gezwungen werden, der sich zwingen lassen will“, lehrt Hegel in Paragraph 91 der „Rechtsphilosophie“. Zang widerspricht eigentlich dem Sinn des Rechts (Rph. Paragraph 92)!

10. Die Normen, die das Verhalten des Menschen in der Demokratie regeln, gehen von der Vernunft aus und sprechen die Vernunft an. Die Demokratie ist die denkbar nüchternste, die rationalste Form des menschlichen Zusammenlebens: Was zählt, ist das Argument.

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