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Walter Kempowskis kollektives Tagebuch aus dem Jahr 1945.

Walter Kempowskis "Echolot" ist an sein Ende gekommen: Der "Abgesang 45", gegliedert nach vier Tagen aus den letzten Wochen des ns-Regimes, beschließt ein literatur-historisches Wagnis, welches seinesgleichen im deutschsprachigen Raum noch lange, lange suchen wird. Genau daraus bezieht das "Echolot" Kempowskis auch seine Faszination, wie auch seine dringende literarische Empfehlung: Die im zehnbändigen "Echolot" versammelten Einträge sprengen allein aufgrund ihrer Fülle und ihrer unterschiedlichen Autorenschaft jedwede Zurichtung.

Vielleicht noch deutlicher als in den bereits erschienenen Bänden offenbart der "Abgesang 45" nicht nur das Chaos vom 20. und 25. April bzw. 8. und 9. Mai 1945, sondern ebenso, und dies in konzentriertester Form, die damit verbundenen Hoffnungen und Befreiungen. Auch der "Abgesang 45" arbeitet mit Extremen: da die Totale auf sämtliche Zeitgenossen, gleich welchen Alters, Berufes oder politischer Gesinnung, dort die absolute Hinwendung ins Detail, in die niedergeschriebenen Hoffnungen, Erlebnisse des Einzelnen.

So gesehen darf der Titel "Abgesang" in zweifacher Hinsicht ernst genommen werden: Abgesang auf das Chaos des Krieges und die großteils noch bis in die letzten Tage hybride ns-Zeit, Abgesang aber auch auf die klassische Geschichtsschreibung, wie auch auf den Roman.

Es sind nieder geschriebene O-Töne ohne Lenkung. Wenn es denn choreografische Absichten gibt, merkt man sie kaum. Dennoch wirkt das Unternehmen "Echolot" eigentümlicherweise auf den Leser nicht als zeithistorisches mtv-Verfahren, als beliebiges, orientierungsloses, ja willkürliches Zapping.

Die Germanisten werden für Kempowskis Mammut-Werk vielleicht irgendwann ein eigenes Sujet schaffen. Für den Leser, den diese kommende Zuordnungs-Debatte marginal interessieren dürfte, bleiben die versammelten O-Töne vor 60 Jahren übrig. Unmittelbar, direkt, widersprüchlich, beklemmend ob des erfahrenen Leids schwillt hier zwischen Buchdeckeln etwas an, was man auf diese Weise noch nicht gelesen hat. Neben den kapriziösen Eintragungen etwa eines Heimito von Doderer finden sich Briefauszüge eines Rotarmisten, der endlich, endlich Berlin erreicht hat, ein britischer Offizier schildert die Befreiung eines kzs, ein Hitlerjunge seinen Traum vom "Reich". Das alles, und unendlich viel mehr, reiht sich aneinander, entwickelt sich zu einem Schicksals-Strudel, der, hat man in die Textur hinein gefunden, einen schlichtweg mitreißt.

Alles gut: Aber ist es Literatur? An solchen Maßeinheiten den "Abgesang" oder das Gesamtwerk "Echolot" zu messen, ginge freilich fehl: Dafür hat Kempowski zur Genüge "richtige" Romane und Erzählungen bereitgestellt. Nein, der "Abgesang 45" bzw. der noch hinzugegebene Band "Culpa" - hierbei handelt es sich um "Echolot"-Arbeitsnotizen Kempowskis von 1978 bis 1993 mitsamt einem ebenfalls sehr persönlich gehaltenen Nachwort seines Lektors Karl Heinz Bittel - zeugt von einem einzigartigen Wagnis eines Schriftstellers, wie auch seines Verlages, für das zu danken bleibt.

Das Echolot

Abgesang 45. Ein kollektives Tagebuch

Von Walter Kempowski

Albrecht Knaus Verlag, München 2005

492 Seiten, geb., e 51,30

Culpa. Notizen zum Echolot

Von Walter Kempowski

Albrecht Knaus Verlag, München 2005, 384 Seiten, kart., e 20,50

Günter Cords, Linz

8. Mai 1945:

Am Straßenrand tauchen Trupps in grauweißen Sträflingskleidern auf. Noch nie hatte ich so entsetzlich aussehende bis auf die Knochen abgemagerte Gestalten gesehen. Eine kleine Gruppe hockte am Straßenrand um ein Feuer und rührte in Kochgeschirren herum.

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